Die Dämonen ruhen nicht
Berger und Manham betrachten die Klangspektrogramme auf dem Computerbildschirm. Obwohl die Stimmenanalyse keine exakte Wissenschaft ist, sind sie überzeugt, dass es sich bei dem Anrufer und Jean-Baptiste Chandonne um ein und dieselbe Person handelt.
»Das alles hätte ich gar nicht gebraucht.« Berger wischt mit dem Finger über den Bildschirm, sodass eine leichte Spur zurückbleibt. »Diesen Scheißkerl würde ich überall erkennen. Tornado. Du hast es erfasst. Das ist die gottverdammte Wahrheit. Genauso zerstört dieser Typ das Leben anderer Menschen. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass er wieder etwas plant.«
Lucy erklärt, dass das Satelliten-Ortungssystem die unmittelbare Umgebung ihres Bürogebäudes angezeigt hat, während die Rufnummererkennung darauf hinwies, dass der Anruf vom anderen Ende des amerikanischen Kontinents, nämlich aus der Strafanstalt Polunsky in Texas, kam. »Wie erklären wir uns das?«
Berger schüttelt den Kopf. »Falls kein technischer Fehler vorliegt, fällt mir zumindest im Moment kein Grund ein.«
»Vor allem möchte ich jetzt eine Bestätigung dafür haben, dass Jean-Baptiste Chandonne noch in Texas im Todestrakt sitzt und am 7. Mai die Nadel bekommt«, sagt Lucy.
»Du machst Witze«, murmelt Manham und lässt einen Kugelschreiber immer wieder auf und zu klicken. Eine nervöse Angewohnheit, mit der er allen auf den Wecker geht, die ihn kennen.
»Zach?« Berger blickt mit hochgezogener Augenbraue auf den Kugelschreiber.
»Tut mir Leid.« Er steckt den Stift in die Brusttasche seines gestärkten weißen Hemdes. »Braucht ihr beide mich noch? Ansonsten müsste ich einige Anrufe erledigen.« Er sieht sie nacheinander an.
»Wir kommen schon klar. Den Rest erzählen wir dir später«, erwidert Lucy. »Und falls jemand für mich anruft, wisst ihr alle nicht, wo ich bin.«
»Noch nicht bereit, wieder aufzutauchen?« Manham grinst.
»Nein.«
Als er geht, ist das gedämpfte Geräusch der dick gepolsterten Tür kaum zu hören.
»Was ist mit Rudy?«, erkundigt sich Berger. »Hoffentlich ist er in seiner Wohnung, duscht oder hält ein Nickerchen. Sieht aus, als solltest du das Gleiche tun.«
»Nein. Wir arbeiten beide. Er sitzt in seinem Büro den Flur runter und versenkt sich im Cyberspace. Rudy, der Internet-Junkie, was sehr nützlich sein kann. Er hat mehr Suchmaschinen im Universum laufen, als es in London U-Bahnen gibt.«
»Für eine richterliche Anordnung, um einen DNS-Test bei Chandonne durchführen zu lassen, brauche ich hinreichende Verdachtsmomente, Lucy«, meint Berger. »Ein auf Band aufgenommener Telefonanruf genügt da nicht. Außerdem weiß ich nicht, wie viele Informationen dieses Büro verlassen dürfen, zumal wir keine Ahnung haben, was der Anruf zu bedeuten hat ...«
»Keine einzige«, fällt Lucy ihr ins Wort. »Dir ist doch klar, dass absolut alles unter uns bleiben muss.«
»Eine Todsünde.« Berger lächelt, und ein nachsichtiger und trauriger Blick tritt in ihre Augen, als sie Lucys streng entschlossene Miene sieht. Lucys Gesicht ist noch glatt und strahlend jugendlich, und ihre sinnlichen vollen Lippen haben die Farbe dunkelroter Erde.
Falls es wirklich stimmt, dass die Uhr eines Menschen am Tag seiner Geburt abzulaufen beginnt, stellt Lucy eine Ausnahme dar. Allerdings hat Berger häufig den Eindruck, dass sie den Gesetzen des Menschseins ohnehin nicht unterworfen ist, und aus diesem Grund befürchtet sie, dass Lucy nicht lange leben könnte. Sie stellt sich ihr hinreißend junges Gesicht und ihren starken Körper auf einem Autopsietisch aus Edelstahl vor, mit einer Kugel im Kopf, und ganz gleich, wie sehr sie sich bemüht, dieses Bild zu vertreiben, es gelingt ihr einfach nicht.
»Unzuverlässigkeit, selbst als Ergebnis von Schwäche, ist eine Todsünde«, stimmt Lucy zu und ist irritiert und nervös, weil Berger sie so seltsam ansieht. »Was ist los, Jaime? Glaubst du, dass es bei uns eine undichte Stelle gibt? Mein Gott, deshalb habe ich ständig Albträume; die Horrorvision, mit der ich leben muss und die ich mehr fürchte als den Tod.« Sie steigert sich in diese Vorstellung hinein. »Wenn ich jemanden erwi- sehe, der verrät ... tja, ein Judas in meiner Organisation, und wir können alle einpacken. Und deshalb muss ich rücksichtslos durchgreifen.«
»Ja, du kannst ziemlich rücksichtslos sein, Lucy.« Berger steht auf und wirft dabei einen kurzen Blick auf Chandonnes Sprachkurven auf dem Bildschirm. »Wir haben hier in New York einen
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