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Die Dämonen ruhen nicht

Die Dämonen ruhen nicht

Titel: Die Dämonen ruhen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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traurig warst und ich dich nach dem Grund gefragt habe, hast du mit Ich weiß nicht geantwortet. Deshalb lautet meine scharfsinnige Diagnose jetzt, dass du traurig bist.«
    Lucy wischt sich weitere Tränen vom Gesicht.
    »Ich habe keine Ahnung, was genau in Polen geschehen ist«, spricht ihre Tante weiter.
    Scarpetta macht es sich auf dem Sofa bequem und schiebt Kissen hinter ihren Rücken, als rechne sie mit einer langen Geschichte. Dabei blickt sie weiter an Lucy vorbei aus dem Fenster in die funkelnde Nacht, weil es Menschen schwerer fällt, ein ernstes Gespräch zu führen, wenn sie einander ansehen.
    »Du musst es mir nicht unbedingt erzählen, Lucy, aber ich glaube, dass es wichtig für dich ist.«
    Ihre Nichte starrt ebenfalls auf die Stadt, die sich rings um sie drängt, und stellt sich die dunkle, hohe See und erleuchtete Schiffe vor. Bei Schiffen denkt sie an Häfen und bei Häfen an die Chandonnes. Häfen sind die Umschlagplätze für ihr verbrecherisches Treiben. Auch wenn Rocco nur eines ihrer Werkzeuge war, musste seine Verbindung zu Scarpetta und zu ihnen allen gekappt werden.
    Ja, es musste sein.
    Bitte, verzeih mir, Tante Kay. Bitte, sag, dass es in Ordnung ist. Bitte, verlier nicht die Achtung vor mir, und glaube nicht, dass ich eine von ihnen geworden bin.
    »Seit Bentons Tod bist du wie eine Furie, ein strafender Geist, und in dieser ganzen Stadt gibt es nicht genug Macht, um deinen Hunger danach zu stillen«, fährt Scarpetta, immer noch in sanftem Ton, fort. »Hier bist du richtig«, sagt sie, während sie beide die Lichter der mächtigsten Stadt der Welt betrachten. »Denn eines Tages, wenn du dich an Macht überfressen hast, wirst du vielleicht erkennen, dass man zu viel davon nicht erträgt.«
    »Das sagst du, um deine eigenen Entscheidungen zu erklären«, meint Lucy ohne eine Spur von Groll. »Du warst die mächtigste Gerichtsmedizinerin des Landes, vielleicht sogar der Welt. Du warst die Chefin. Vielleicht hast du die Macht und Bewunderung nicht mehr ausgehalten.«
    Lucys schönes Gesicht wirkt nicht mehr ganz so traurig.
    »Ich habe geglaubt, dass ich so vieles nicht mehr aushalten könne«, erwidert Scarpetta. »So vieles. Aber nein: Ich fand meine Macht nicht unerträglich. Wir beide haben eine unterschiedliche Einstellung zur Macht. Ich möchte nichts beweisen, du hingegen ständig, auch wenn es völlig überflüssig ist.«
    »Du hast die Macht nicht verloren«, antwortet Lucy. »Dass man sie dir entzogen hat, ist nur eine Illusion, Politik eben. Deine wahre Macht hast du nicht der Außenwelt zu verdanken, woraus folgt, dass die Außenwelt sie dir auch nicht wegnehmen kann.«
    »Was hat Benton uns angetan?«
    Ihre Frage erschreckt Lucy; es ist, als würde ihre Tante die Wahrheit kennen.
    »Seit seinem Tod ... ich schaffe es noch immer kaum, dieses Wort auszusprechen ... Tod.« Scarpetta hält inne. »Seitdem ist es, als ginge es mit uns allen bergab. Wie ein Land, das im Belagerungszustand ist. Eine Stadt nach der anderen fällt. Du, Marino, ich. Vor allem du.«
    »Ja, ich bin eine Furie.« Lucy steht auf, schlendert zum Fenster und lässt sich im Schneidersitz auf Jaime Bergers prachtvollem antiken Teppich nieder. »Ich bin eine Rächerin. Das gebe ich zu. Ich habe das Gefühl, dass die Welt weniger gefähr- lich ist und dass dir weniger Gefahr droht, dass uns allen weniger Gefahr droht, seit Rocco nicht mehr lebt.«
    »Aber du darfst nicht Gott spielen. Du bist nicht einmal mehr eine vereidigte Mitarbeiterin der Strafverfolgungsbehörden, Lucy. Das Letzte Revier ist ein Privatunternehmen.«
    »Nicht ganz. Wir sind eine Partnerfirma der Internationalen Strafverfolgungsbehörden und arbeiten mit ihnen zusammen, für gewöhnlich auf Anweisung von Interpol. Außerdem sind wir von weiteren hochrangigen Behörden ermächtigt, über die ich nicht mit dir sprechen darf.«
    »Und eine hochrangige Behörde hat dir die Genehmigung erteilt, die Welt von Rocco Caggiano zu befreien?«, fragt Scarpetta. »Hast du abgedrückt, Lucy? Ich muss wenigstens das wissen.«
    Lucy schüttelt den Kopf. Nein, sie hat nicht abgedrückt, aber nur, weil Rudy darauf bestanden hat, den Schuss abzugeben, sodass Schmauchspuren und winzige Tröpfchen von Roccos Blut an seine Hände gerieten, nicht an ihre. Roccos Blut klebt an Rudys Händen. Das war nicht fair. Lucy sagt ihrer Tante die Wahrheit.
    »Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass Rudy sich das aufbürdet, und ich bin genauso verantwortlich für Roccos Tod.

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