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Die Dämonen ruhen nicht

Die Dämonen ruhen nicht

Titel: Die Dämonen ruhen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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starrt auf den schmutzigen Gehweg und betrachtet einen eingetrockneten Kaugummi, der grau ist und die Form eines kleinen Kekses hat.
    »Was hast du in Houston gemacht?«, erkundigt sich Scarpetta.
    »Ich bin umgestiegen.« Er fängt wieder an zu weinen.
    »Und woher bist du gekommen? Wo bist du losgeflogen?«
    »Miami«, antwortet er, und seine Verzweiflung wächst. »Ich war über die Frühjahrsferien bei meinem Onkel, und dann sagte meine Tante, ich müsste sofort nach Hause kommen.«
    »Wann hat sie das gesagt?« Scarpetta, die das Warten auf die Tante inzwischen aufgegeben hat, nimmt Albert an der Hand. Sie kehren zurück in den Gepäckbereich und steuern auf die Theke der Hertz-Autovermietung zu.
    »Heute früh«, erwidert er. »Ich glaube, ich hab was Schlimmes angestellt. Onkel Walt kam nämlich zu mir ins Schlafzimmer, hat mich geweckt und meinte, ich müsste sofort nach Hause. Eigentlich hätte ich noch drei Tage bleiben sollen.«
    Scarpetta geht in die Hocke, sieht ihm in die Augen und umfasst sanft seine Schultern. »Albert, wo ist deine Mutter?«
    Er beißt sich auf die Unterlippe. »Bei den Engeln«, sagt er. »Meine Tante hat mir erklärt, dass die Engel immer um uns herum sind, aber ich habe noch nie einen gesehen.«
    »Und dein Vater?«
    »Weg. Er ist sehr wichtig.«
    »Dann verrate mir deine Telefonnummer, damit wir rauskriegen, was los ist«, schlägt Scarpetta vor. »Oder kennst du die Mobilfunknummer von deiner Tante? Wie heißt sie übrigens?«
    Nachdem Albert ihr den Namen seiner Tante und die Telefonnummer gegeben hat, ruft Scarpetta an. Es läutet ein paar Mal, dann nimmt eine Frau ab.
    »Könnte ich bitte Mrs. Guidon sprechen?«, fragt Scarpetta, während Albert fest ihre Hand umklammert.
    »Dürfte ich erfahren, wer Sie sind?« Die Frau ist höflich und hat einen französischen Akzent.
    »Sie kennt mich nicht. Aber ich habe ihren Neffen bei mir. Albert. Ich bin am Flughafen. Offenbar hat ihn niemand abgeholt.« Sie reicht Albert das Telefon. »Hier«, fordert sie ihn auf.
    »Wer ist da?«, meldet er sich seltsamerweise und fährt nach einer Pause fort: »Weil du nicht hier bist. Ich weiß nicht, wie sie heißt.« Er runzelt die Stirn; sein Tonfall ist schnippisch.
    Scarpetta nennt ihm ihren Namen nicht. Albert lässt ihre Hand los und ballt die Faust. Dann fängt er an, sich damit auf den Schenkel zu hauen; er schlägt sich selbst.
    Die Frau spricht schnell. Ihre Stimme ist zwar gut zu hören, aber Scarpetta versteht nichts. Die Frau und Albert sprechen Französisch, und Scarpetta betrachtet Albert mit erneutem Erstaunen, als dieser wütend das Telefonat beendet und ihr das Gerät zurückgibt.
    »Wo hast du Französisch gelernt?«, erkundigt sie sich.
    »Von meiner Mama«, erwidert er bedrückt. »Tante Evelyn möchte, dass ich viel Französisch spreche.« Seine Augen füllen sich wieder mit Tränen.
    »Ich mache dir einen Vorschlag: Wir holen jetzt meinen Mietwagen, und dann fahre ich dich nach Hause. Du kannst mir doch zeigen, wo du wohnst, oder?«
    Er wischt sich die Augen ab und nickt.

107
    Die Silhouette von Baton Rouge besteht aus schwarzen Schornsteinen von unterschiedlicher Höhe. Am dunklen Horizont steht ein perlgrauer Rauchstreifen.
    In der Ferne wird die Nacht von den grellen Lichtern der petrochemischen Fabriken erleuchtet.
    Die Stimmung von Albert Dard bessert sich, als seine neue Freundin unweit des Footballstadions der Universität die River Road entlangfährt. Hinter einer anmutigen Biegung des Mississippi zeigt er auf ein Eisentor und alte Backsteinpfeiler, die vor ihnen aufragen.
    »Da«, sagt er. »Das ist es.«
    Er wohnt in einem Anwesen, das mindestens einen halben Kilometer zurückversetzt von der Straße steht. Ein gewaltiges Schieferdach und einige Kamine ragen über die dichten Bäume auf. Scarpetta stoppt den Wagen, und Albert steigt aus, um einen Nummerncode in ein Tastenfeld einzugeben. Langsam öffnet sich das Tor. In gemächlichem Tempo fahren sie zu der neoklassischen Villa mit kleinen geschwungenen Glasfenstern und einer gewaltigen gemauerten Veranda vor dem Haus. Alte Eichen beugen sich wie schützend über das Gebäude. Das einzige Auto in Sicht ist ein alter weißer Volvo, der auf der kopfsteingepflasterten Auffahrt steht.
    »Ist dein Vater zu Hause?«, fragt Scarpetta, während ihr silberner Miet-Lincoln über Pflastersteine holpert.
    »Nein«, antwortet Albert bedrückt. Scarpetta parkt.
    Dann steigen sie aus und gehen steile Backsteinstufen hinauf.

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