Die Dämonen ruhen nicht
Nachdem Albert aufgeschlossen und die Alarmanlage abgeschaltet hat, betreten sie das restaurierte Haus, das noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg stammt. Es ist mit handgeschnitzten Konsolen, dunklem Mahagoni, lackierten Vertäfelungen und antiken Orientteppichen ausgestattet, die abgetreten und schäbig wirken. Dämmerlicht dringt durch die Fenster herein; diese sind mit schweren Damastvorhängen versehen, die von Kordeln mit Fransen zurückgehalten werden. Eine geschwungene Treppe führt ins obere Stockwerk, wo rasche Schritte auf einem Holzboden zu hören sind.
»Das ist meine Tante«, verkündet Albert, als eine Frau mit Vogelknochen und einem freudlosen Ausdruck in den dunklen Augen die Treppe herunterkommt. Ihre Hand gleitet das glatt schimmernde Geländer entlang.
»Ich bin Mrs. Guidon.« Mit federnden, raschen Schritten betritt sie die Vorhalle.
Mit ihrem sinnlichen Mund und den zarten Nasenlöchern könnte Mrs. Guidon eine Schönheit sein, wären ihre Gesichtszüge nicht so hart und wäre sie nicht so streng gekleidet. Der hohe Kragen wird von einer Goldbrosche zusammengehalten, und sie trägt dazu einen langen schwarzen Rock und schwarze Gesundheitsschuhe zum Schnüren. Ihr schwarzes Haar ist straff zurückgesteckt. Sie muss Anfang vierzig sein, doch ihr Alter ist schwer zu schätzen. Ihre Haut weist keine einzige Falte auf und ist so blass, dass sie fast durchscheinend wirkt, so als sei sie noch nie in der Sonne gewesen.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?« Mrs. Guidons Lächeln ist so eisig wie die muffige, stickige Luft im Haus.
»Ja!« Albert packt Scarpetta an der Hand. »Bitte, trinken Sie einen Tee mit uns. Wir haben auch Kekse. Sie sind meine neue Freundin!«
»Für dich gibt es keinen Tee«, erwidert Mrs. Guidon. »Geh sofort in dein Zimmer, und nimm deinen Koffer mit. Ich sage dir, wenn du wieder herunterkommen kannst.«
»Bitte bleiben Sie«, fleht Albert Scarpetta an. »Ich hasse dich«, meint er zu Mrs. Guidon.
Sie reagiert nicht darauf, offenbar hat sie das schon öfter gehört. »So ein alberner kleiner Junge, der sehr müde und quengelig ist, denn schließlich ist es schon spät. Und jetzt verabschiede dich. Ich fürchte, du wirst diese nette Dame nicht wieder sehen.«
Scarpetta ist besonders freundlich zu ihm, als sie ihm auf Wiedersehen sagt.
Zornig stapft er die Treppe hinauf und blickt sich einige Male um. Seine traurige Miene geht ihr ans Herz. Als sie seine Schritte oben auf dem Holzboden hört, sieht sie ihre unsympathische und merkwürdige Gastgeberin finster an.
»Wie können Sie so kalt zu einem kleinen Jungen sein, Mrs. Guidon?«, beginnt sie. »Was für Menschen sind Sie und sein Vater nur, dass Sie sich darauf verlassen, ein Fremder würde ihn schon nach Hause bringen?«
»Ich bin enttäuscht.« Ihre herrische Art legt sich nicht. »Ich hätte gedacht, dass eine anerkannte Wissenschaftlerin wie Sie Nachforschungen betreibt, bevor sie Mutmaßungen anstellt.«
108
Lucy und Marino unterhalten sich am Mobiltelefon.
»Wo wohnt sie?«, fragt Lucy, die in ihrem geparkten schwarzen Lincoln Navigator sitzt.
Sie und Rudy haben sich überlegt, dass sie wohl am wenigsten auffallen, wenn sie mit abgeschaltetem Motor und ohne Licht auf dem Parkplatz des Radisson stehen.
»Beim Leichenbeschauer. Ich bin froh, dass sie nicht allein in einem Hotel schläft.«
»Ein Hotel wäre für uns alle nichts«, entgegnet Lucy. »Verdammt, kannst du dir nicht noch einen lauteren Pick-up zulegen?«
»Wenn es einen gäbe.«
»Was hast du über ihn rausgekriegt? Wie heißt er?«
»Sam Lanier. Eine absolut weiße Weste. Als er mich anrief, um Nachforschungen über Doc Scarpetta anzustellen, machte er einen anständigen Eindruck auf mich.«
»Tja, falls er doch Dreck am Stecken hat, kann ihr trotzdem nichts passieren. Er kriegt nämlich noch drei weitere Übernachtungsgäste«, antwortet Lucy.
109
Die zarte Teetasse aus Wedgewood-Porzellan klappert leise auf der Untertasse.
Mrs. Guidon und Scarpetta sitzen an einem Küchentisch, der aus einem jahrhundertealten Metzgerblock besteht. Scarpetta findet den Tisch widerlich und muss ständig daran denken, wie viele Hühner und andere Tiere wohl auf diesem abgenutzten, gewölbten Stück Holz voller Kerben, Risse und Verfärbungen geschlachtet worden sind. Es ist eine unangenehme
Nebenwirkung ihres Berufes, dass sie zu viel weiß - zum Beispiel, dass es unmöglich ist, ein poröses Material wie Holz in einen absolut keimfreien Zustand
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