Die Dämonen ruhen nicht
zusammengeknüllte Servietten. Hier unten gibt es keine Fliegen. Keine einzige.
Lucy schluckt ein paar Mal. Als sie sich vorstellt, wie die Schmeißfliegen auf Rocco herumkrabbeln und sich an seiner Leiche laben, wird ihr plötzlich übel. Sie malt sich aus, was als Nächstes passieren wird. In dem warmen Zimmer werden sich die Schmeißfliegeneier in Maden verwandeln, die - abhängig davon, wie lange Rocco unentdeckt bleibt - über seine verwesende Leiche kriechen, insbesondere in seine Wunde und in die Körperöffnungen. Schmeißfliegen lieben tiefe, dunkle, feuchte Nischen und Gänge.
Der heftige Aasfresser-Befall wird es erschweren, Roccos Todeszeitpunkt zu bestimmen, was auch Rudys Absicht war, als er die Fliegen im Zimmer freiließ. Der Gerichtsmediziner, der Roccos Leiche untersucht, wird verwirrt sein, wenn er hört, wann der Zimmerservice das Essen gebracht hat, während er gleichzeitig das fortgeschrittene Stadium des Madenbefalls und der Verwesung sieht. Der Blutalkoholpegel wird darauf hinweisen, dass Rocco betrunken war, als er an einer selbst zugefügten Schusswunde starb; das Bleischrapnell und die rasiermesserscharfen Kupferkanten eines Hohlspitzengeschosses mit Teilmantel sind wie ein Sturm durch sein Gehirn gefegt. Die Fingerabdrücke auf der Waffe stammen von ihm.
Die Wärme im Zimmer wird zwar einkalkuliert werden, aber vermutlich keinen Verdacht erregen. Auf der leeren Champagnerflasche wird die Polizei Caggianos Fingerabdrücke finden, falls sie sich überhaupt die Mühe macht, danach zu suchen. Allerdings wird nirgendwo vermerkt sein, dass Rocco den Champagner bestellt oder als Geschenk des Hauses erhalten hat. Möglicherweise hat er ihn ja anderswo gekauft. Das Papier der roten Meldung wird ebenso seine Fingerabdrücke aufweisen, wenn jemand es daraufhin untersucht, und davon muss Lucy ausgehen.
Sie wünscht, Rocco hätte nicht den Zimmerservice kommen lassen. Doch sie hat diese Möglichkeit eingeplant, in dem Wissen, dass der Kellner, der das Essen gebracht hat, sich bestimmt an das Trinkgeld erinnern und lieber verschweigen wird, dass es sich hierbei um amerikanische Dollars gehandelt hat. Bestimmt will der Betreffende nicht in einen Skandal verwickelt werden und es mit der Polizei zu tun bekommen. Und wenn Roccos Todeszeitpunkt, wie der Gerichtsmediziner ihn ermittelt, überhaupt nicht mit der Aussage des Kellners übereinstimmt - immer vorausgesetzt, dieser Mensch macht überhaupt den Mund auf -, wird man wahrscheinlich davon ausgehen, dass er sich in der Zeit oder sogar im Tag geirrt hat. Oder dass er lügt. Niemand wird zugeben wollen, dass er amerikanisches Geld und vielleicht noch weitere Gefälligkeiten und illegale Waren angenommen hat, die Rocco dem Hotel im Laufe der vielen Jahre hat zukommen lassen.
Wen wird es interessieren, dass Rocco Caggiano tot ist? Möglicherweise keinen Menschen außer der Familie Chandonne, die sich einige Fragen stellen wird. Lucy hat eingeplant, dass die Chandonnes Druck ausüben werden, um die Tatsachen in Erfahrung zu bringen. Vielleicht werden sie es tun, vielleicht aber auch nicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird man von einem Selbstmord ausgehen, den kein Mensch betrauert und der niemanden kümmert.
46
Lucy rennt durch die Dunkelheit; dass sie Schmerzen in der Brust hat, liegt nicht an der körperlichen Anstrengung.
Der Mercedes steht still am Straßenrand, und sie kann Rudy wegen der getönten Scheiben nicht erkennen. Das Schloss entriegelt sich, und sie öffnet die Fahrertür.
»Mission erledigt?«, fragt er mürrisch in die Dunkelheit. »Noch nicht den Motor starten.«
Sie berichtet ihm von ihrer Begegnung mit dem Betrunkenen und dem Hotelpersonal und erklärt ihm, wie sie das Problem gelöst hat. Er schweigt, aber sie spürt, dass er nicht damit einverstanden und ärgerlich auf sie ist.
»Du kannst mich auch mal loben. Ich glaube, wir sind aus dem Schneider.«
»Jedenfalls so weit das unter den gegebenen Umständen möglich ist«, muss er einräumen.
»Niemand hat einen Grund, mich mit Roccos Zimmer oder mit seinem Tod in Verbindung zu bringen«, fährt sie fort. »Ich bin absolut sicher, dass das Hotelpersonal das Zimmer nicht betreten wird, solange das >Bitte-nicht-stören<-Schild an der Tür hängt. Weil das Fenster offen ist, werden noch mehr Fliegen hereinkommen. Wenn er in drei oder vier Tagen gefunden wird, wird er so von Maden befallen sein, dass er unkenntlich ist. Und falls du es noch nicht wissen solltest:
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