Die Dämonen ruhen nicht
Gebäude aus poliertem Granit in der 75. Straße erreicht hat. Davor steht, die Hände auf dem Rücken, ein Portier. Er schwitzt in seiner grauen Uniform und tritt von einem Bein aufs andere, ein Hinweis darauf, dass ihm die Füße wehtun.
»Ich suche das Letzte Revier«, spricht Benton ihn an.
»Das was?« Der Portier schaut ihn an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank.
Benton wiederholt den Satz.
»Meinen Sie so eine Art Polizeirevier?« Der Portier betrachtet ihn, und das Urteil obdachloser Spinner steht ihm ins müde irische Gesicht geschrieben. »Vielleicht ist es ja das Revier in der 69.«
»Einundzwanzigster Stock, Suite zwanzig-eins-null-drei«, erwidert Benton.
»Ach, jetzt weiß ich, wovon Sie reden. Aber die Firma heißt nicht Das Letzte Revier. In zwanzig-eins-null-drei sitzt eine Softwarefirma, Sie wissen schon, so was mit Computern.«
»Sind Sie sicher?«
»Verdammt, ich arbeite schließlich hier.« Der Portier wird ungeduldig und betrachtet finster eine Frau, deren Hund zu dicht an dem Blumenkübel vor dem Gebäude herumschnüffelt. »Hey«, sagt er zu ihr. »Hier pinkeln keine Hunde in die Hecke.«
»Sie schnuppert doch nur«, entgegnet die Frau empört, zerrt an der Leine und zieht ihren bedauernswerten Toy-Pudel in die Mitte des Bürgersteigs.
Nachdem er so seine Autorität unter Beweis gestellt hat, achtet der Portier nicht mehr auf die Frau und ihren Hund. Benton wühlt in der Tasche seiner aus gebleichten Jeans, holt einen zusammengefalteten Zettel heraus, streicht ihn glatt und studiert einen Namen und eine Telefonnummer, die nichts mit Lucy, diesem Gebäude oder dem Büro, das - ganz gleich, was der Portier auch glaubt - wirklich Das Letzte Revier heißt, zu tun haben. Falls der Mann Lucy später zufällig, vielleicht im Scherz, erzählen sollte, dass ein komischer Typ da war und sich nach dem Letzten Revier erkundigt hat, wird sie erschrecken und sich große Sorgen machen. Marino vermutet, dass Jean-Baptiste Lucys Firma unter diesem Namen kennt. Deshalb will Benton erreichen, dass Marino und Lucy es mit der Angst zu tun kriegen und auf der Hut sind.
»Hier steht aber zwanzig-eins-null-drei«, teilt er dem Portier mit und steckt den Zettel wieder in die Tasche. »Wie heißt die Firma? Vielleicht hat man mir ja was Falsches gesagt.«
Der Portier geht hinein und greift nach einem Klemmbrett. Nachdem er mit dem Finger die Seite entlanggefahren ist, antwortet er: »Okay, okay, zwanzig-eins-null-drei. Wie ich schon sagte, eine Computerfirma. Infosearch Solutions. Wenn Sie rauf wollen, muss ich dort anrufen und mir Ihren Ausweis ansehen.«
Den Ausweis, natürlich, aber ein Anruf ist überflüssig. Benton schmunzelt. Der Portier ist absichtlich unhöflich und hat Vorurteile gegen den schäbig gekleideten Fremden, der da vor ihm steht. Er hat - wie so viele New Yorker - vergessen, dass es früher die größte Tugend dieser Stadt war, schäbig gekleidete Fremde und bitterarme Einwanderer, die kaum Englisch sprachen, willkommen zu heißen. Benton spricht ausgezeichnet Englisch, wenn er Lust dazu hat, und arm ist er auch nicht, obwohl er über seine Ausgaben Rechenschaft ablegen muss.
Er holt das Portemonnaie aus der Jackentasche und fördert einen Führerschein zu Tage: Steven Leonard Glover, Alter vierundvierzig, geboren in Ithaca, New York. Er nennt sich nicht mehr Tom Haviland, weil Marino ihn unter diesem Decknamen kennt. Immer wenn Benton die Identität wechseln muss, was er tut, wenn es nötig wird, leidet er eine Weile an Depressionen und dem Gefühl, dass alles sinnlos ist. Er wird über Gebühr wütend und ist anschließend umso entschlossener, durchzuhalten, und zwar ohne vor Hass zu verbrennen.
Hass nimmt einem Menschen den Halt. Wer hasst, kann nicht mehr klar denken und sehen. Sein ganzes Leben lang hat Benton dem Hass widerstanden. Es wäre zwar nachvollziehbar, aber viel zu leicht gewesen, die bösartigen, sadistischen und niemals reumütigen Täter zu hassen, die er während seiner
Zeit beim FBI mit einem wahren Übereifer gnadenlos aufgespürt und festgenommen hat. Benton könnte sein Talent, unbemerkt zu bleiben und nicht aufzufallen, niemals nutzen, wenn er hassen oder sich sonstigen überschwänglichen Gefühlen hingeben würde.
Er hat eine Beziehung mit Scarpetta angefangen, als er noch verheiratet war, vielleicht die einzige Sünde, die er sich nie verzeihen wird. Er erträgt es nicht, sich die Trauer vorzustellen, die Connie und ihre Töchter empfunden haben
Weitere Kostenlose Bücher