Die Dämonen ruhen nicht
müssen, als sie von seinem vermeintlichen Tod erfuhren. Manchmal betrachtet er sein Exil als Strafe für das, was er seiner Familie angetan hat, weil er schwach war und einem übermächtigen, auch weiterhin andauernden Gefühl nachgegeben hat. Scarpetta hat nun einmal diese Wirkung auf ihn, und er würde - das weiß er genau - dieselbe Sünde wieder begehen, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte, bis zu dem Moment, als sie beide feststellten, was sie einander bedeuteten. Seine einzige Ausrede - eine ziemlich faule - lautet, dass sie beide ja nicht geplant hatten, einander körperlich anzuziehen und sich zu verlieben. Es ist eben passiert. Einfach so passiert.
»Ich rufe für Sie an«, verkündet der Portier und gibt Benton den gefälschten Ausweis zurück.
»Danke ... Wie heißen Sie denn?«
»Jim.«
»Danke, Jim, aber das ist nicht nötig.«
Benton geht los, überquert die 75. Straße, ohne auf die rote Fußgängerampel zu achten, und verschwindet im anonymen Passantenstrom auf der Lexington Avenue. Er duckt sich unter einem Gerüst durch und zieht seine Kappe tiefer ins Gesicht, doch seinen Augen hinter der dunklen Brille entgeht nichts. Wenn ihm einer der ahnungslosen Fußgänger eine Straße weiter wieder begegnen würde, würde er dessen Gesicht wieder erkennen, denn er ist stets aufmerksam und auf der Hut. Beim dritten Mal würde er den- oder diejenige verfolgen und mit seiner winzigen Videokamera aufnehmen. In den letzten sechs Jahren hat er so Hunderte von Bändern zusammengesammelt. Bis jetzt haben sie ihm lediglich bewiesen, dass er in einer sehr kleinen Welt lebt, ganz gleich, wie groß die jeweilige Stadt auch sein mag.
In New York ist die Polizei überall präsent. Cops sitzen in ihren Streifenwagen oder stehen plaudernd auf Gehwegen und an Häuserecken. Benton marschiert seelenruhig an ihnen vorbei und schaut starr geradeaus. Die Pistole an seinem Knöchel stellt ein so schweres Vergehen dar, dass ein Polizist, der sie bemerkt, ihn vermutlich zu Boden werfen oder gegen die nächste Hauswand stoßen würde. Dann würde man ihm Handschellen anlegen, ihn in ein Polizeiauto verfrachten, verhören, anhand des Computersystems des FBI überprüfen, erkennungsdienstlich behandeln und unter Anklage stellen - und zwar absolut vergeblich. Als Benton noch gegen Verbrecher ermittelt hat, waren seine Fingerabdrücke in AFIS, dem Automatisierten Fingerabdruck-Identifizierungssystem, gespeichert. Nach seinem angeblichen Tod hat man seine Abdrücke mit denen eines Mannes vertauscht, der eines natürlichen Todes gestorben war und dem man in der Leichenkammer eines Bestattungsunternehmens in Philadelphia heimlich die Fingerabdrücke abgenommen hatte. Bentons genetischer Fingerabdruck befindet sich in keiner Datenbank der Welt.
Er tritt in einen Hauseingang und ruft mit einem Mobiltelefon, das als Rechnungsadresse eine Telefonnummer bei den Justizvollzugsbehörden von Texas hat, die Auskunft an. Die Rechnungsadresse einzuprogrammieren ist nicht sehr schwer gewesen. Schließlich hat Benton Jahre damit verbracht, sich in die Handhabung eines Computers einzuarbeiten; inzwischen kann er den Cyberspace nutzen oder missbrauchen, wie es ihm gefällt. Ein gelegentliches R-Gespräch in den Telefonrechnungen der Justizvollzugsbehörden von Texas wird vermutlich niemandem auffallen und kann auch nicht zurückverfolgt werden, sodass ihm sicher nie ein Mensch auf die Schliche kommen wird.
Wie Benton weiß, wird der Name und die Telefonnummer des Gefängnisses in Texas im Display von Lucys sicherlich hochmoderner Telefonanlage auftauchen, wenn er ihr Büro anruft. Und ganz bestimmt besitzt Lucy auch ein Gerät zur forensischen Stimmenanalyse. Selbstverständlich hat Benton Jean-Baptistes Stimme auf Band, und zwar schon seit Jahren aus den sehr gefährlichen Tagen einer verdeckten Operation, die nicht zum Fall des Chandonne-Kartells geführt, sondern stattdessen Bentons Identität und sein Leben ausgelöscht hat. Das hat Benton sich noch immer nicht verziehen. Er glaubt nicht, dass er die Gefühle der Schuld und Demütigung je loswerden wird. Er hat die Leute unterschätzt, deren Vertrauen ihm das Überleben garantierte.
Als Kind ist Benton mit seinem magischen Ring bei seinen Phantasieermittlungen auch hin und wieder ein Fehler unterlaufen. Und als er erwachsen war und den goldenen Ring des FBI trug, war er ebenfalls nicht gefeit gegen Irrtümer und Falscheinschätzungen. Bei der psychologischen Beurteilung von Mördern hat
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