Die Dämonen ruhen nicht
vorbei ist, falls er überhaupt so weit nach Südosten zieht; laut Wettervorhersage im Autoradio hört es sich nicht danach an. Aber sie ist noch nicht bereit, zum Bootshafen zurückzukehren. Das Lämmchen im tannengrünen Ford Explorer hat in den letzten beiden Stunden eine interessante Strecke zurückgelegt, und Bev versteht den Grund einfach nicht. Sie - wer immer sie auch sein mag - fährt langsam durch Straßen und insbesondere über Parkplätze, und zwar aus keinem für Bev erkennbaren Anlass.
Sie vermutet, dass das Lämmchen Streit mit seinem Mann hatte und deshalb absichtlich nicht nach Hause kommt, vermutlich, damit er sich schreckliche Sorgen macht, ein Macht-
Spielchen also. Bev muss Abstand halten, in Seitenstraßen und in Tankstellen am Highway 19 einbiegen und dann wieder aufs Gas treten. Einige Male hat Bev den Explorer links überholt und ist nach mindestens fünfzehn Kilometern Vorsprung vom Highway abgefahren, um dort auf ihre Beute zu warten. Nach einer Weile kommen sie durch Baker, ein Städtchen, in dem die Läden seltsame Namen wie Raif’s Po-Boy, Money Flash Cash und Crawfish Depot haben.
Die Stadt zieht vorbei wie eine Fata Morgana, und der Highway wird stockdunkel. Hier draußen gibt es überhaupt nichts, keine Lichter, nur Bäume und eine Plakatwand, auf der auch du brauchst Jesus steht.
54
Die Augen von Alligatoren erinnern Bev an Periskope, die sie fixieren, bevor sie im Wasser, das die Farbe von dünnem Kaffee hat, verschwinden. Jay hat ihr erklärt, die Alligatoren würden sie nicht behelligen, solange sie sie in Ruhe lässt. Dasselbe behauptet er allerdings auch von Mokassinschlangen.
»Hast du die Viecher mal gefragt, was sie von dieser Behauptung halten? Und wenn sie stimmt, warum springen die Mokassinschlangen dann aus den Bäumen und versuchen, ins Boot zu kommen? Und denk an den Film, den wir gesehen haben. Wie hieß er noch mal... ?«
»Gesichter des Todes«, erwiderte er, ausnahmsweise amüsiert und nicht verärgert über ihre Frage.
»Erinnerst du dich an den Wildhüter, der in den See fiel, und dann hat ein Riesenalligator ihn geschnappt?«
»Mokassinschlangen kommen nicht ins Boot, wenn man sie nicht erschreckt«, erwiderte Jay. »Und der Alligator hat den Wildhüter nur angegriffen, weil der Wildhüter zuerst ihn angreifen wollte.«
Das klang ziemlich logisch, und Bev war ein wenig beruhigt, bis Jay wieder sein grausames Lächeln lächelte, eine Kehrtwendung machte und ihr erläuterte, woran sie erkennen könne, ob ein Reptil oder ein anderes Tier auf Beutezug und deshalb aggressiv und ein furchtloser Jäger sei.
»Es ist alles in den Augen, Baby«, sagte er. »Die Augen eines Raubtiers sind vorn am Kopf wie meine.« Er wies auf seine schönen blauen Augen. »Wie bei einem Alligator, einer Mokassinschlange oder einem Tiger. Wir Raubtiere sind ständig auf der Suche nach etwas, das wir angreifen können. Die Augen von Nicht-Raubtieren liegen hingegen eher seitlich am Kopf, denn wie, zum Teufel, soll sich ein Kaninchen gegen einen Alligator verteidigen? Deshalb braucht das arme Ding einen Blick zur Seite, um zu sehen, was kommt, und um schnell abzuhauen.«
»Ich habe Raubtieraugen«, erwiderte Bev, froh, das zu wissen, aber ganz und gar nicht glücklich, zu hören, dass Alligatoren und Mokassinschlangen auch Raubtiere waren.
Solche Augen bedeuten also, dass ein Tier auf Beutezug ist und ein Lebewesen sucht, das es verletzen oder töten kann. Raubtiere, insbesondere Reptilien, fürchten sich nicht vor Menschen. Mist! Was Bev betrifft, ist sie einem Alligator oder einer Schlange nicht gewachsen. Und wer wird wohl gewinnen, wenn sie ins Wasser fällt oder auf eine Mokassinschlange tritt? Ganz bestimmt nicht sie.
»Der Mensch ist das höchste Raubtier«, sagte Jay. »Allerdings sind wir komplizierter angelegt. Ein Alligator ist und bleibt ein Alligator. Eine Schlange ist und bleibt eine Schlange. Ein Mensch hingegen kann ein Wolf oder ein Lamm sein.«
Bev ist ein Wolf.
Sie spürt, wie ihr wölfisches heißes Blut sich regt, als sie an den Zypressenknien vorbeigleitet, die wie die Rückenkämme von Ungeheuern aus dem Bayou ragen. Die hübsche blonde Frau, die gefesselt auf dem Boden des Bootes liegt, blinzelt insaufblitzende Licht der Morgensonne. Wo die Zypressenwurzeln aus dem Wasser ragen, ist es nicht tief, und Bev ist auf der Hut, als sie sich langsam der Fischerhütte nähert. Hin und wieder versucht die Gefangene, ihre Lage zu verändern, um die schrecklichen
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