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Die Dämonen

Titel: Die Dämonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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in diesem Augenblicke, und – auf einmal schlug die endgültige Katastrophe wie eine Bombe in die Versammlung ein und explodierte in ihrer Mitte: der dritte Vorleser, jener Schauspieler, der immer hinter den Kulissen die Faust geschwungen hatte, kam plötzlich auf die Bühne gelaufen.
    Er sah vollständig wie ein Verrückter aus. Mit einem breiten, triumphierenden Lächeln voll maßlosen Selbstbewußtseins überschaute er den aufgeregten Saal und schien sich selbst über die Unordnung zu freuen. Es setzte ihn nicht im geringsten in Verlegenheit, daß er in einem solchen Wirrwarr lesen sollte; im Gegenteil hatte er offenbar sein Vergnügen daran. Das war so offensichtlich, daß es sogleich die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte.
    »Was gibt es da noch?« wurde gefragt. »Wer ist das noch? Ssst! Was will er sagen?«
    »Meine Herrschaften!« schrie der Schauspieler, ganz am Rande der Estrade stehend, aus voller Kehle und fast mit ebenso weibisch kreischender Stimme wie Karmasinow, nur ohne das vornehme Lispeln. »Meine Herrschaften! Vor zwanzig Jahren, am Vorabende eines Krieges mit halb Europa, stand Rußland in den Augen aller Staats- und Geheimräte als ein Ideal da! Die Literatur stand unter Zensur; auf den Universitäten wurden Vorlesungen über das Exerzieren gehalten; die Armee hatte sich in ein Ballett verwandelt; das Volk aber bezahlte Steuern und schwieg unter der Knute der Leibeigenschaft. Der Patriotismus bestand darin, daß man Bestechungsgelder von Lebenden und Toten erpreßte. Wer keine Bestechungsgelder nahm, galt als Rebell; denn er störte die Harmonie. Die Birkenhaine wurden vernichtet, um der Ordnung zu Hilfe zu kommen. Westeuropa zitterte. Aber noch niemals ist Rußland im Laufe des ganzen einfältigen Jahrtausends seines Bestehens zu einem so schmählichen Zustande gelangt ...«
    Er hob die Faust in die Höhe, schwenkte sie wild und drohend über seinem Kopfe und ließ sie dann auf einmal wütend niederfallen, wie wenn er einen Gegner in Grund und Boden schmettere. Ein wütendes Geheul erscholl von allen Seiten; ein betäubendes Beifallklatschen erdonnerte. Es applaudierte schon fast die Hälfte des Saales; sie ließen sich ganz harmlos hinreißen: Rußland wurde vor allem Volke öffentlich beschimpft; mußte man da nicht brüllen vor Entzücken?
    »Ja, so ist es! Das ist richtig! Hurra! Nein, das ist nun mal kein Ästhetiker!«
    Der Schauspieler fuhr enthusiastisch fort:
    »Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen. Die Universitäten sind geöffnet und haben sich vermehrt. Das Exerzieren ist zur Legende geworden; an Offizieren fehlen zum vollen Bestande Tausende. Die Eisenbahnen haben alle Kapitalien aufgezehrt und Rußland wie mit einem Spinnennetze überzogen, so daß man etwa in fünfzehn Jahren vielleicht auch wird irgendwohin fahren können. Die Brücken brennen nur selten ab; die Städte aber verbrennen regelmäßig, in der festgesetzten Ordnung, der Reihe nach, in der Saison der Feuersbrünste. Bei den Gerichten werden salomonische Urteile gefällt, und die Geschworenen nehmen nur im Kampfe um das Dasein Bestechungsgelder an, wenn sie nahe daran sind zu verhungern. Die freigelassenen Leibeigenen prügeln sich gegenseitig mit Ruten, wie es ihnen früher die Gutsbesitzer taten. Meere und Ozeane von Branntwein werden ausgetrunken zum Besten des Staatssäckels, und in Nowgorod ist gegenüber der alten, nutzlosen Sophienkathedrale feierlich eine kolossale Bronzekugel zur Erinnerung an die tausendjährige Dauer der nunmehr vergangenen Unordnung und Unvernunft aufgestellt worden. 1 Westeuropa macht ein finsteres Gesicht und beginnt von neuem unruhig zu werden ... Fünfzehn Jahre der Reformen! Und doch ist Rußland noch nie, nicht einmal in den schlimmsten Zeiten seiner Unvernunft, zu einem so schmählichen Zustande gelangt ...«
    Die letzten Worte waren wegen des Gebrülles der Menge nicht zu verstehen. Man sah nur, wie er wieder den Arm in die Höhe hob und ihn noch einmal siegreich niederfallen ließ. Die Begeisterung überschritt alle Grenzen: man heulte, schlug in die Hände, manche Damen riefen sogar: »Genug! Etwas Besseres können Sie nicht mehr sagen!« Die Leute waren wie betrunken. Der Redner ließ seine Augen über alle dahinschweifen und zerschmolz gewissermaßen im Gefühle seines Triumphes. Ich sah flüchtig, daß Lembke in unbeschreiblicher Aufregung jemandem etwas befahl. Julija Michailowna, die ganz blaß geworden war, sagte hastig etwas zu dem Fürsten, der eilig zu ihr herangetreten war

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