Die Daemonenseherin
Traurigkeit und die Hoffnungslosigkeit hatte er mit seiner Kindheit und seinem Elternhaus hinter sich gelassen, doch eines war immer geblieben: Einsamkeit.
Logan schüttelte den Kopf und versuchte die aufsteigenden Erinnerungen an seine Eltern und die Gleichgültigkeit, die von ihnen ausgegangen war, nachdem Devon das Haus verlassen hatte, zu verdrängen. Konzentriere dich! , ermahnte er sich. Sonst hängt sie dich noch ab.
Doch Alessa Flynn machte weder Anstalten ihn abzuschütteln noch sich überhaupt großartig zu bewegen. Sie blieb in diesem Flügel des Museums, einem großen Raum mit hoher Decke, an dessen mit Stoff bespannten Wänden ein Gemälde neben dem anderen hing. Einzelne Raumteiler machten es leicht, sich vor ihr zu verbergen. Wenn ihr Blick nicht geistesabwesend ins Nichts gerichtet war, wanderte er zum Eingang des Ausstellungsraums und wieder zurück.
Sie wartete auf jemanden.
Allerdings sah es ganz danach aus, als würde dieser Jemand sie hängen lassen.
Von Zeit zu Zeit setzte sie sich auf eine der gemütlich aussehenden, mit Plüsch bezogenen Bänke, doch sie hielt es nie lange aus. Immer wieder sprang sie auf, lief ruhelos auf und ab, sah auf die Uhr oder durchbohrte die Tür mit ihren Blicken, als könne sie ihr Date allein durch die Kraft ihres Willens zwingen zu erscheinen.
Es war seltsam, denn genau dieses Gefühl hatte er in ihrer Wohnung gehabt, als sie ihm sagte, er solle verschwinden. Für einen Moment war es gewesen, als berühre etwas seinen Geist und versuche nach seinem Willen zu greifen.
Logan hatte von Sehern gehört, die über die Gabe der Telepathie verfügten, doch angeblich war diese nie sonderlich ausgeprägt, schon gar nicht stark genug, um jemandes Gedanken oder Handlungen zu beeinflussen. Abgesehen davon war diese Frau nicht einmal eine Seherin. Beim Betreten des Museums hatte sie die Handschuhe ausgezogen und in ihre Jackentasche gestopft, und auch in ihrer Wohnung hatte sie sie nicht getragen. Jemand, der über die Gabe verfügte, würde nicht auf seine Handschuhe verzichten, andernfalls würden ihn die Emotionen und Bilder, die ihn jedes Mal überkamen, wenn er etwas berührte, allmählich in den Wahnsinn treiben.
Doch sah er einmal von den fehlenden Handschuhen ab, gab es durchaus Dinge, die die Vermutung nahelegten, dass sie trotzdem eine Seherin sein könnte. Einmal mehr dachte Logan an die zufällige Berührung von gestern und wie Alessa zurückgezuckt war. Als hätte sie etwas gesehen. Auch vorhin, als er sie am Arm angefasst hatte, damit sie nicht umkippte, war sie zurückgewichen, allerdings nur im ersten Moment.
Logan warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb sieben, sie wartete nun schon über zwei Stunden. Auch die letzten dreißig Minuten, bis die Galerie schloss, rührte sie sich kaum vom Fleck. Schließlich kam einer der Angestellten und bat sie das Gebäude zu verlassen, damit sie absperren konnten.
Während der Uniformierte noch mit ihr sprach, machte Logan kehrt und ging nach draußen. Es dämmerte bereits, sodass es ihm nicht schwerfiel, ein schattiges Versteck zwischen den Säulen zu finden, wo er unbemerkt auf Alessa warten konnte.
Und es dauerte auch nicht lange, bis sie auf den Säulengang trat. Eine Weile stand sie dort, den Reißverschluss des Parkas geschlossen, den Kragen hochgeschlagen und die Hände in den Taschen vergraben. Ihr Blick schoss von einer Seite zur anderen, als hoffe sie endlich den zu entdecken, auf den sie gewartet hatte. Ihr war anzusehen, dass sie fror, trotzdem rührte sie sich nicht vom Fleck. Erst nach einer weiteren halben Stunde zog sie ihr Handy aus der Tasche und drückte ein paar Tasten.
Mit der einen Hand hielt sie sich das Telefon ans Ohr, während sie sich mit der anderen über die Augen fuhr.
»Sanna?«, hörte Logan sie dann. »Verdammt, wo steckst du? Bitte ruf an.« Sie sagte noch mehr, doch eine aufkommende Windböe riss die Worte aus ihrem Mund und trieb sie fort, sodass Logan sie nicht verstehen konnte. Kopfschüttelnd unterbrach sie die Verbindung, steckte das Handy wieder weg und machte so abrupt kehrt, dass sich Logan mit einem Satz außer Sicht katapultieren musste. Sie ging an der Galerie vorbei und folgte der langen Treppe nach oben, die auf der Rückseite des Gebäudes in Richtung der Royal Mile führte.
Im Augenblick war sie die Einzige, die diesen Weg nahm. Damit sie ihn nicht sofort bemerkte, wartete Logan, bis sie das Ende der Treppe beinahe erreicht hatte. Es war mittlerweile dunkel
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