Die Daemonenseherin
Armbeuge mit einem getränkten Wattebausch ab. Sie wollte sich wehren, als sie ihr den Arm abbanden, doch die Fixierungen ließen es nicht zu. Ein kurzer Stich, dann sah sie ihr Blut in das Röhrchen gluckern, das auf der Kanüle steckte.
»Na bitte«, sagte der eine und gab die Spritze an seinen Kollegen weiter. »War doch gar nicht so schlimm. Alle anderen Tests wird Doktor Burke selbst vornehmen. Ich werde nur noch sehen, ob uns Ihre Gefühle etwas verraten können.«
Er streifte den rechten Handschuh ab und legte ihr die Hand auf die Stirn. Wärme kroch dort, wo er sie berührte, unter ihre eisige Haut und wühlte sich tastend und suchend durch ihre Gedanken und Erinnerungen. Ein normaler Mensch würde bestenfalls ein Prickeln spüren, die meisten überhaupt nichts. Eine ausgebildete Seherin, wie sie es war, wusste allerdings sehr wohl, wann jemand in ihrem Geist stocherte. Unter normalen Umständen hätte sie das Eindringen abwehren können, doch ihre Konzentration war auf die Barriere gerichtet, mit der sie den Dämon aus ihrem Geist sperrte.
Sie war dem Angriff hilflos ausgeliefert.
Es war nicht so, dass die Seher Gedanken lesen konnten. Vielmehr suchten sie nach starken Emotionen, die Visionen in ihnen aufblitzen ließen, die sie wiederum nach brauchbaren Informationen durchstöbern konnten. Das war es, was der Assistent jetzt mit ihr tat.
»Sie hatten erst kürzlich Kontakt mit Miss Flynn«, sagte der Mann, als er seine Hand zurückzog und die Lederriemen löste. »Das wird Doktor Burke sicher interessieren.«
Um ein Haar hätte sie aufgeschrien, als sie gepackt und auf die Beine gezerrt wurde. Die Schwäche war aus ihren Gliedern gewichen, und Susannah fühlte sich nun stärker, sodass sie aus eigener Kraft zwischen den Laboranten gehen konnte, trotzdem gab sie sich nicht der Illusion hin, dass dieser Zustand lange anhalten würde. Zurück in der Kammer würden sie sie erneut in künstlichen Schlaf versetzen. Doch diesmal waren es nicht die Gedanken an die Dunkelheit und die Enge des Isolationstanks, die sie mit Schrecken erfüllten, sondern die bange Frage, ob sie für Alessa zur Gefahr werden konnte.
9
I n der Nacht hatte Alessa nur wenig Schlaf gefunden. Entsprechend gerädert fühlte sie sich, als sie am Morgen in den Laden hinunterging, um ihre Schicht anzutreten. Sie räumte Zeitschriften und Süßigkeiten in die Regale, mistete alten Kram aus, half Leuten zu finden, wonach sie suchten, und kassierte ab. Doch all die Arbeiten, die ihr sonst vertraut waren und ihr in ihrer Eintönigkeit eine gewisse Ruhe gaben, schafften es heute nicht, sie abzulenken. Ihre Gedanken tanzten Tango. Immer wieder sah sie Logans ausdruckslose Miene vor sich, als er ihr auf den Kopf zugesagt hatte, dass sie eine Seherin war. Das Echo des Misstrauens, das er der Gemeinschaft gegenüber empfand, verursachte ihr selbst jetzt noch eine Gänsehaut. Das hat nichts mit dir zu tun. Ich will dir wirklich helfen. Wie sollte sie ihm glauben? Wie konnte sie hoffen, er würde sie unbefangen betrachten, nachdem er nun wusste, wer sie war? Nein, er glaubte zu wissen, wer sie war.
Gestern war er ihr näher gewesen, als jeder andere Mensch während der letzten Jahre – sogar näher als Susannah. Sie war lange allein gewesen und gut damit zurechtgekommen, doch wenn sie jetzt an Logan dachte, spürte sie die Sehnsucht, nicht länger allein zu sein.
Jedes Mal, wenn das Glöckchen über der Tür klingelte, um einen Kunden anzukündigen, zuckte Alessa erschrocken zusammen, da sie fürchtete, es könnte Logan sein, der die volle Wahrheit über sie herausgefunden hatte. Alles in ihr schrie danach, sich ihre Tasche zu schnappen und abzuhauen. Die Alufolie, die sie sich längst wieder über den Chip geklebt hatte, würde verhindern, dass die Lesegeräte sie aufspürten, und wenn sie ihr Handy wegwarf, gab es auch für Logan keine Anhaltspunkte mehr, die ihm helfen konnten, sie zu finden. Doch solange sie nicht wusste, was mit Susannah war, konnte sie unmöglich gehen.
Alessa straffte die Schultern. Sie würde überhaupt nicht gehen! Nicht den Rest ihres Lebens auf der Flucht verbringen und in irgendwelchen Löchern hausen, von denen sie hoffte, dass sie dort niemand fand. Sie weigerte sich, die Hoffnung, die beim Anblick des Professors in ihr aufgestiegen war, einfach so sterben zu lassen. In diesem Moment war es gewesen, als wäre sie lange Zeit durch die Dunkelheit gegangen und plötzlich hatte jemand ein Licht eingeschaltet. Jetzt
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