Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See
Flöhen.
Sie schrie aus voller Kehle auf. Vor Entsetzen und Ekel am ganzen Körper zitternd, begann sie die Flöhe abzuschütteln und abzustreifen, wobei sie heftig mit den Armen ausholte. Kelpie ging erschrocken in Galopp über. Um ein Haar wäre Ciri heruntergefallen. Während sie mit den Beinen die Flanken der Stute umklammerte, fuhr sie sich mit beiden Händen durch die Haare, zauste sie, schüttelte Jacke und Hemd aus. Kelpie galoppierte in eine rauchverhangene Gasse. Ciri schrie vor Entsetzen auf.
Sie ritt durch die Hölle, durch ein Inferno, durch den schlimmsten aller Albträume. Zwischen Häusern dahin, die mit weißen Kreuzen gekennzeichnet waren. Zwischen schwelenden Lumpenhaufen. Zwischen Toten, die einzeln lagen, und solchen, die aufgestapelt waren. Und zwischen Lebenden, abgerissenen, halbnackten Gespenstern mit vor Schmerz eingefallenen Wangen, die sich im Morast wälzten, in einer Sprache schrien, die sie nicht verstand, die ihr die dürren, von grässlichen, blutigen Geschwüren bedeckten Hände entgegenreckten …
Fliehen! Fort von hier!
Selbst im schwarzen Nichts, im Nichtsein des Archipels von Orten, spürte Ciri in der Nase noch lange jenen Rauch und Gestank.
Der nächste Ort war ebenfalls ein Hafen. Auch hier gab es einen Kai, es gab einen mit Pfählen bestückten Kanal, auf dem Kanal Koggen, Barkassen, Schuten, Boote und darüber einen Wald von Masten. Doch hier, an diesem Ort, schrien über den Masten fröhlich die Möwen, und es stank gewöhnlich und vertraut: nach nassem Holz, Teer, Meerwasser und auch nach Fisch, in allen drei Grundvarianten – frisch, nicht frisch und geräuchert.
Auf dem Deck der nächstgelegenen Kogge stritten sich zwei Männer, schrien einander an. Sie verstand, was sie sagten. Es ging um die Preise für Heringe.
Unweit lag eine Taverne, aus ihrer offenen Tür schlug der Geruch von Moder und Bier, man hörte Stimmen, Klappern, Gelächter. Jemand grölte ein schmutziges Liedchen, immer mit demselben Refrain:
Luned, v’ard t’elaine arse
Aen a meath ail aen sparse!
Sie wusste, wo sie war. Noch ehe sie auf dem Heck den Namen einer der Galeassen gelesen hatte: »Evall Muire«. Und den Heimathafen: Baccalá. Sie wusste, wo sie war.
In Nilfgaard.
Sie floh, ehe sich jemand näher für sie interessierte.
Doch ehe sie ins Nichts springen konnte, sprang ein Floh – der letzte von denen, die am vorigen Ort über sie hergefallen waren, und der die Reise durch Zeit und Raum in einer Jackenfalte verborgen überdauert hatte – mit einem weiten Sprung auf den Kai.
Noch am selben Abend richtete sich der Floh im schütteren Fell einer Ratte ein, eines alten Männchens, eines Veteranen vieler Rattenschlachten, wovon ein dicht am Kopf abgebissenes Ohr zeugte. Noch am selben Abend schifften sich Floh und Ratte ein. Und schon am Morgen darauf stachen siein See. Auf einer Holk, die alt war, verwahrlost und sehr schmutzig.
Die Holk trug den Namen »Catriona«. Dieser Name sollte in die Geschichte eingehen. Doch noch wusste niemand davon.
Der nächste Ort – obwohl es schwer zu glauben war – überraschte sie mit einem geradezu idyllischen Anblick. An einem ruhigen, trägen Fluss, der zwischen übers Wasser gebeugten Weiden, Erlen und Eichen dahinfloss, gleich neben einer Brücke, die in schönem steinernem Bogen die Ufer verband, stand zwischen Malven eine riedgedeckte Herberge, bewachsen von wildem Wein, Efeu und Wicken. Über dem Vorbau wiegte sich ein Schild mit goldenen Buchstaben darauf. Die Buchstaben waren Ciri völlig fremd. Aber auf dem Schild war auch die ganz gut gelungene Zeichnung eines Katers, daher nahm sie an, die Herberge heiße »Zum Schwarzen Kater«.
Der von der Herberge heranwehende Essensgeruch war einfach überwältigend. Ciri zögerte nicht lange. Sie rückte das Schwert auf dem Rücken zurecht und trat ein.
Drinnen war es leer, nur an einem von den Tischen saßen drei Männer, die wie Dörfler aussahen. Sie würdigten sie keines Blickes. Ciri setzte sich in die Ecke, den Rücken zur Wand.
Die Wirtin, eine korpulente Frau mit schön sauberer Schürze und einem Häubchen mit seitlichen Flügeln, kam heran und fragte etwas. Ihre Stimme klang surrend, aber melodisch. Ciri zeigte auf ihren offenen Mund, klopfte sich auf den Bauch, worauf sie einen der Silberknöpfe von der Jacke abdrehte und auf den Tisch legte. Als sie einen seltsamen Blick sah, schickte sie sich schon an, den zweiten Knopf abzudrehen, doch die Frau gebot ihr mit einer
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