Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See
reichten und gemeinsam gegen Nilfgaard ins Feld zogen. Die Heeresgruppe »Ost«, die unter Führung von Fürst Ardal aep Dahy zum Pontartal marschierte, konnte den beiden verbündeten Königen nicht die Stirn bieten. Verstärkt durch Einheiten aus Redanien und durch Königin Meves Guerillakämpfer, die den Nilfgaardern von hinten her schwer zusetzten, trieben Demawend und Henselt Ardal aep Dahy bis auf Aldersberg zurück. Fürst Ardal wollte die Schlacht annehmen, doch ein sonderbarer Ratschluss des Schicksals ließ ihn plötzlich erkranken; er hatte etwas gegessen, wovon ihn Koliken und ein Durchfall
miserere
überkamen und er binnen zwei Tagen unter großen Schmerzen starb. Demawend und Henselt aber griffen unverzüglich die Nilfgaarder an, und dort, bei Aldersberg, wohl gemäß der historischen Gerechtigkeit, zerschlugen sie sie in einer wackeren Schlacht, obwohl Nilfgaard noch immer erheblich in der Überzahl war. Also pflegen Geist und Kunstfertigkeit über dumpfe und brutale Gewalt zu triumphieren.
Noch von einer Sache muss geschrieben sein: Was bei Brenna aus Menno Coehoorn geworden ist, das weiß niemand. Die einen sagen, er sei gefallen und sein Körper unerkannt in einem Massengrab beerdigt. Andere sagen, er sei mit dem Leben davongekommen, aber aus Furcht vor dem Zorn des Kaisers nicht nach Nilfgaard zurückgekehrt; vielmehr habe er sich im Brokilon
verborgen, bei den Dryaden, und sei dort Einsiedler geworden, habe sich den Bart bis zum Erdboden wachsen lassen. Und dort sei er auch alsbald unter Kummer und Sorgen gestorben.
Unter dem einfachen Volk geht jedoch die Überlieferung, der Marschall sei nächtens auf das Feld von Brenna zurückgekehrt und zwischen den Grabhügeln umhergewandert, wobei er gerufen habe: »Gebt mir meine Legionen wieder«; schließlich aber habe er sich an einer Espe erhängt, auf der Anhöhe, die seither Galgenberg genannt wird. Und nachts könne man die Erscheinung des berühmten Marschalls unter den anderen Gespenstern antreffen, die das Schlachtfeld für gewöhnlich heimsuchen.
»Opa Jarre! Opa Jarre!«
Jarre blickte von den Papieren auf, rückte die auf der schwitzenden Nase verrutschte Brille zurecht.
»Opa Jarre!«, rief in den höchsten Tönen seine jüngste Enkelin, eine resolute und flinke Sechsjährige, die den Göttern sei Dank eher nach der Mutter, Jarres Tochter, kam als nach dem latschigen Schwiegersohn.
»Opa Jarre! Oma Lucienne lässt sagen, dass es für heute genug ist mit diesem müßigen Geschreibsel und dass das Abendessen auf dem Tisch steht!«
Jarre legte sorgsam die beschriebenen Bögen zusammen und verkorkte des Tintenfass. Im Armstumpf pulsierte der Schmerz. Das Wetter ändert sich, dachte er. Es kommt Regen.
»Opa Jaaarreee!«
»Ich komme ja schon, Ciri. Ich komme ja schon.«
Ehe sie mit dem letzten Verwundeten fertig waren, war es schon weit nach Mitternacht. Die letzten Operationen hatten sie schon bei Licht durchgeführt – erst bei gewöhnlichem Lampenlicht, später auch bei magischem. Marti Sodergren war nach der überwundenen Krise wieder zu sich gekommen, undobwohl sie bleich wie der Tod war, in ihren Bewegungen steif und unnatürlich wie ein Golem, zauberte sie richtig und wirkungsvoll.
Es war schwarze Nacht, als sie aus dem Zelt traten, alle vier, und sich hinsetzten, die Rücken an die Plane gelehnt.
Die Ebene war voller Feuer. Verschiedenartiger – der unbeweglichen Lagerfeuer, der beweglichen von Lampen und Fackeln. Durch die Nacht hallten ferner Gesang, Sprechchöre, Patrouillenrufe, Vivats.
In ihrer Gegend wurde die Nacht auch vom Schreien und Stöhnen der Verwundeten zerrissen. Von den Bitten und Seufzern der Sterbenden. Sie hörten das schon nicht mehr. Sie hatten sich an die Geräusche von Schmerz und Tod gewöhnt, für sie waren es so gewöhnliche, natürliche Laute, so eingebettet in diese Nacht wie das Quaken der Frösche in den Nassauen am Flüsschen Chotla, wie das Zirpen der Grillen in den Akazien am Goldenen Teich.
Marti Sodergren schwieg lyrisch, auf eine Schulter des Halblings gestützt. Iola und Shani, aneinandergeschmiegt, Arm in Arm, brachen von Zeit zu Zeit in leises, völlig sinnloses Gelächter aus.
Ehe sie sich beim Zelt hingesetzt hatten, hatten sie jeder einen Becher Schnaps getrunken, und Marti hatte ihnen allen ihren letzten Zauberspruch spendiert: einen Spruch, der fröhlich machte und für gewöhnlich beim Zähneziehen benutzt wurde. Rusty fühlte sich von dieser Behandlung betrogen –
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