Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See
nicht.«
Jarre fühlte, wie er vor Scham und Erniedrigung rot wurde. Er hatte sich noch nicht eingewöhnt. Er hatte immer noch den Eindruck, die ganze Welt habe nichts Besseres zu tun, als auf den Stumpf zu glotzen, auf den umgeschlagenen und zugenähten Ärmel. Die ganze Welt denke an nichts anderes, als die Verkrüppelung zu sehen, dem Krüppel Mitgefühl vorzuheucheln und Bedauern zu simulieren, ihn in Wahrheit aber zu verachten und für etwas zu halten, welches die hübsche Ordnung in Unordnung brachte, indem es hässlich und dreist existierte. Indem es wagte zu existieren.
Lucienne, musste er zugeben, unterschied sich in dieser Hinsicht ein wenig von der ganzen Welt. Weder tat sie so, als sähe sie nichts, noch verfiel sie in die Manier erniedrigender Hilfe und noch mehr erniedrigenden Mitleids. Jarre war nahe daran zu glauben, dass die blonde Fuhrfrau ihn natürlich und normal behandelte. Doch er schob diesen Gedanken von sich. Er akzeptierte ihn nicht.
Denn er brachte es immer noch nicht fertig, sich selbst normal zu behandeln.
Das Militärfuhrwerk, das Invaliden transportierte, knarrte und rumpelte. Nach einer kurzen Regenzeit war sengende Hitze gekommen, die vom Tross ausgefahrenen Spurrinnen waren getrocknetund zu Kämmen, Graten und Buckeln von phantastischen Formen erstarrt, durch die sich das von vier Pferden gezogene Fahrzeug hindurchquälen musste. Über die größeren Rinnen sprang der Wagen geradezu, knackte, der Wagenkasten wankte wie ein Schiff im Sturm. Die verkrüppelten – größtenteils beinlosen – Soldaten fluchten dann ebenso ausgesucht wie schmutzig, und Lucienne, um nicht herunterzufallen, schmiegte sich an Jarre und legte den Arm um ihn, ließ dabei dem Burschen reichlich von ihrer magischen Wärme zuteil werden, von ihrer wundersamen Weichheit und von der erregenden Mischung von Gerüchen nach Pferd, Leder, Heu, Hafer und jungem, intensivem Mädchenschweiß.
Der Wagen sprang wieder aus einer Rinne, Jarre zog die ums Handgelenk gewickelten Zügel straffer. Lucienne, die abwechselnd vom Brot und der Wurst abbiss, schmiegte sich an seine Seite.
»Na, na.« Sie hatte sein Messingmedaillon entdeckt und nutzte schamlos die Tatsache aus, dass seine einzige Hand mit den Zügeln beschäftigt war. »Haben sie dich auch reingelegt? Ein Vergissmeinnicht-Amulett? Oi, das war wirklich ein Schlitzohr, der sich diesen Firlefanz ausgedacht hat. Da war große Nachfrage nach in diesem Krieg, mehr als nach Schnaps, denk ich. Und was da für ein Mädchenname drin ist, sehen wir gleich …«
»Lucienne.« Jarre wurde rot wie eine Tomate, er fühlte, wie ihm gleich das Blut aus den Wangen spritzen würde. »Ich muss dich bitten … es nicht aufzumachen … Entschuldige, aber das ist etwas Privates. Ich möchte dich nicht kränken, aber …«
Der Wagen sprang hoch, Lucienne schmiegte sich an ihn, und Jarre verstummte.
»Ci-ril-la«, buchstabierte die Fuhrfrau mit Mühe. Jarre war trotzdem überrascht – er hatte von dem Landmädchen keine so weit reichenden Fähigkeiten erwartet.
»Sie wird dich nicht vergessen.« Sie klappte das Medaillon zu,ließ das Kettchen los, schaute den Burschen an. »Diese Cirilla, mein ich. Wenn sie dich wirklich geliebt hat. Diese Zauber und Amulette sind schnurz. Wenn sie dich wirklich geliebt hat, dann hat sie dich nicht vergessen. Wartet auf dich.«
»Auf das?« Jarre hob den Armstumpf.
Das Mädchen kniff leicht die Augen zusammen, die blau waren wie Kornblumen. »Wenn sie dich wirklich geliebt hat«, wiederholte sie fest, »dann wartet sie, und der Rest ist schnurz. Ich weiß das.«
»So große Erfahrung hast du in dieser Hinsicht?«
Jetzt war Lucienne an der Reihe, leicht zu erröten. »Es geht dich nichts an, was ich mit wem hatte. Aber denk bloß nicht, dass ich eine von denen bin, die man bloß anzugucken braucht, und schon gehen sie mit einem ins Heu. Aber was ich weiß, weiß ich. Wenn man einen Kerl liebt, dann im Ganzen und nicht in einzelnen Teilen. Da ist es schnurz, ob ein Teil fehlt.«
Der Wagen sprang.
»Du vereinfachst mächtig«, sagte Jarre mit zusammengebissenen Zähnen, während er bereitwillig den Geruch des Mädchens einsog. »Du vereinfachst und idealisierst mächtig, Lucienne. Du willst zum Beispiel so ein kleines Detail nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Unversehrtheit eines Mannes darüber entscheidet, ob er Frau und Familie ernähren kann. Ein Krüppel ist nicht imstande …«
»Na, na, na!«, schnitt sie ihm das Wort
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