Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See
schwärmten.
»Toruviel«, sagte einer der Elfen, der sich umgewandt hatte. »En’ca digne, luned.«
Lucienne erfasste sofort die Situation, verstand, worum es ging. Sie hatte begriffen, worauf die Elfe schaute. Als Landbewohnerin war sie von Kind auf mit dem hinter der Ecke der Hütte lauernden grauen und aufgedunsenen Gespenst vertraut, dem Hunger. Also reagierte sie instinktiv und unfehlbar. Sie reichte der Elfe Brot.
»En’ca digne, Toruviel«, wiederholte der Elf. Er allein vom ganzen Kommando trug auf dem eingerissenen Ärmel der staubigen Jacke die silbernen Blitze der Brigade »Vrihedd«.
Die Invaliden auf dem Wagen, bis zu diesem Augenblick versteinert und erstarrt, regten sich plötzlich, wie von einem Zauberspruch belebt. In ihren Händen, die sie zu den Elfen hin ausstreckten, fanden sich wie herbeigezaubert Brotkanten, Handkäse, Stücke von Speck und Wurst.
Und die Elfen, zum erstenmal seit tausend Jahren, streckten die Hände zu den Menschen aus.
Lucienne und Jarre aber waren die ersten Menschen, die eine Elfe weinen sahen. Wie sie von Schluchzen geschüttelt wurde, ohne auch nur zu versuchen, die über das schmutzige Gesicht rinnenden Tränen wegzuwischen. Die die Behauptung Lügen straften, Elfen hätten überhaupt keine Tränendrüsen.
»En’ca … digne«, wiederholte der Elf mit den Blitzen auf dem Ärmel mit brechender Stimme.
Dann streckte er die Hand aus und nahm Brot von Vachtl.
»Ich danke dir«, sagte er heiser, passte mit Mühe Zunge und Lippen an die fremde Sprache an. »Ich danke dir, Mensch.«
Nach einer Zeit, als sie bemerkte, dass alles schon vorüber war, schnalzte Lucienne den Pferden zu, klatschte mit den Zügeln. Der Wagen knarrte und rumpelte. Alle schwiegen.
Es ging schon auf den Abend zu, als die Straße von bewaffneten Reitern zu wimmeln begann. Angeführt wurden sie von einer Frau mit völlig weißen, kurzgeschnittenen Haaren und einem bösen, verbissenen Gesicht, das von Narben entstellt war, deren eine von der Schläfe bis zum Mundwinkel über die Wange lief, während die andere hufeisenförmig eine Augenhöhle umgab. Der größte Teil der rechten Ohrmuschel fehlte der Frau, und ihr linker Arm endete unterhalb des Ellenbogens in einem Lederstulp mit Messinghaken, mit dem sie die Zügel hielt.
Die Frau musterte sie mit bösem, von glühendem Rachedurst erfülltem Gesicht und fragte nach den Elfen. Den Scioa’tael. Den Terroristen. Den flüchtigen Überlebenden eines vor zwei Tagen zerschlagenen Kommandos.
Jarre, Lucienne und die Invaliden wichen dem Blick der weißhaarigen und einarmigen Frau aus und sagten, murmelten undeutlich, nein, sie seien niemandem begegnet und hätten niemanden gesehen.
Ihr lügt, dachte die Weiße Rayla, dieselbe, die einst die Schwarze Rayla gewesen war. Ihr lügt, ich weiß das. Ihr lügt aus Mitleid.
Aber das hat keine Bedeutung.
Denn ich, die Weiße Rayla, kenne kein Erbarmen.
»Hurraaa, hoch die Zwerge! Vivat Barclay Els!«
»Sie leben hooooch!«
Das Nowigrader Pflaster dröhnte unter den genagelten Stiefeln der Mannen vom Freiwilligen Haufen. Die Zwerge marschiertenin der für sie typischen Formation, in Fünferreihen, die Standarte mit den Hämmern wehte über der Kolonne.
»Es lebe Mahakam! Vivant die Zwerge!«
»Preis ihnen! Ruhm!«
Plötzlich begann jemand in der Menge zu lachen. Etliche Personen fielen ein. Und einen Augenblick später brüllten schon alle vor Lachen.
»Das ist ein Affront …« Der Hierarch Hemmelfart schnappte nach Luft. »Ein Skandal … Das ist unverzeihlich …«
»Die dreckigen Nichtmenschen«, zischte Priester Willemer.
»Tut so, als ob ihr es nicht seht«, riet Foltest ruhig.
»Man hätte nicht bei ihrem Proviant knausern sollen«, sagte Meve säuerlich. »Und ihnen nicht die Wegzehrung verweigern.«
Die Zwergenoffiziere wahrten Ernst und Form, vor der Tribüne strafften sie sich und salutierten. Die Unteroffiziere und Soldaten des Freien Haufens indes brachten ihre Missbilligung der von den Königen und dem Hierarchen vorgenommenen Budgetkürzungen zum Ausdruck. Die einen zeigten beim Vorbeimarsch an der Tribüne den Königen den gekrümmten Ellenbogen, andere demonstrierten die zweite von ihren Lieblingsgesten – eine Faust mit steif hochgerecktem Mittelfinger. In akademischen Kreisen trug diese Geste die Bezeichnung
digitus infamis
. Der Pöbel benannte sie drastischer.
Die hochroten Gesichter der Könige und des Hierarchen bewiesen, dass sie beide Bezeichnungen
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