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Die Darwin-Kinder

Die Darwin-Kinder

Titel: Die Darwin-Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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noch Sinn macht.
    In der langen Geschichte der Evolution sind noch viel bemerkenswertere Zufälle aufgetreten.«
    »Und Temins Modell, nach dem Viren auf unterschiedliche Weise zum Genom beitragen?«
    »Ist brillant, alt und längst widerlegt.«
    Nilson schob seine verstreuten Notizen und Papiere zu einem Stapel zusammen, schichtete sie sorgfältig aufeinander, richtete den Stapel aus und klopfte mit dem Daumen leicht auf die Tischplatte. »Im Laufe meines Lebens«, bemerkte er, »bin ich zu der Auffassung gelangt, dass man die Grundsätze der Biologie mit Glaubenssätzen vergleichen kann. Mein Credo lautet: Ich glaube zum Beispiel, dass die Kette von Anweisungen, die sich von der DNA über die RNA bis zu den Proteinen erstreckt, irreversibel ist. Das zentrale Dogma.
    McClintock, Temin, Baltimore und viele andere haben dieses zentrale Dogma widerlegt. Sie haben gezeigt, dass Gene Produkte erzeugen können, die bewirken, dass die Gene Kopien von sich irgendwo einfügen können – dass Retroviren sich in DNA umschreiben und dort als Proviren für Jahrmillionen überleben können.«
    Kaye sah, dass Jackson sie mit seinen scharfen grauen Augen musterte. Mit seinem Bleistift klopfte er leise auf den Tisch.
    Beide wussten sie, dass Nilson sich in Szene setzte und Cross damit nicht beeindrucken würde.
    »Vor vierzig Jahren haben wir den Anschluss verpasst«, fuhr Nilson fort. »Ich war einer von denen, die Temins Ideen ablehnten. Wir brauchten Jahre, um zu erkennen, welches Potenzial Retroviren besitzen, ein Chaos anzurichten. Und als HIV zum ersten Mal auftrat, waren wir nicht darauf vorbereitet. Wir verfügten nicht über ein buntes Kaleidoskop verrückter, kreativer Theorien, aus dem wir auswählen konnten. Diese Theorien hatten wir ja alle im Keim erstickt oder, genauso schlimm, sie gar nicht erst beachtet. Millionen unserer Patienten mussten wegen unseres eigenen sturen Stolzes leiden. Howard Temin hat Recht gehabt, ich hatte Unrecht.«
    »Ich würde nicht das Wort Glaubenssätze verwenden, sondern es die Einsicht in Prozesse nennen«, unterbrach ihn Jackson, der jetzt lauter mit dem Bleistift klopfte. »Sie hat uns davor bewahrt, noch schlimmere Schnitzer zu machen, denken wir nur an Lysenko.«
    Nilson wollte davon nichts hören. »Ach, gehen Sie mir fort –
    Lysenko! Glaube, Einsicht, Dogma, all das läuft doch nur auf sture Ignoranz hinaus. Dreißig Jahre davor haben wir den Anschluss an Barbara McClintock und ihre vagabundierenden Gene verpasst. An wie viele noch? Wie viele Praktikanten, Assistenten und Forscher haben wir links liegen lassen? Es war der reine Hochmut, wie ich inzwischen weiß, unsere eigenen Schwächen zu verbergen und auf unsere Feinde herabzusehen, die unseren Fundamentalismus bedrohten. Wir haben unsere Unfehlbarkeit vor Schulleitungen, Politikern, Firmen, Geldgebern und Patienten geltend gemacht – vor jedem, von dem wir annahmen, er könne uns herausfordern. Männer unter sich, Ms. Cross. Die Biologie bestand aus einem unglaublichen, archaischen Patriarchat, das in vielerlei Hinsicht wie eine alte Seilschaft funktionierte: Es gab geheime Zeichen, Kennworte, Rituale der Indoktrination. Unsere Besten und Klügsten haben wir gar nicht erst hochkommen lassen, jedenfalls für bestimmte Zeit. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Und auch ein zweites Mal haben wir nicht erkannt, welcher Moloch auf uns zu kam. Erst ist HIV über uns hinweggerollt, danach SHEVA. Dabei hat sich herausgestellt, dass wir über sexuelle Fortpflanzung und evolutionäre Variationen überhaupt nichts wussten, rein gar nichts. Und dennoch verhalten sich einige von uns immer noch so, als wüssten wir alles. Wir versuchen, die Schuld anderen in die Schuhe zu schieben und vor dem eigenen Versagen zu flüchten. Also gut, wir haben versagt. Wir haben dabei versagt, die Wahrheit zu erkennen. Und die heutigen Berichte fassen unser Versagen zusammen.«
    Cross wirkte nachdenklich. »Ich danke Ihnen, Lars. Ich bin sicher, das kam von Herzen. Aber ich möchte immer noch wissen: Wie machen wir von hier aus weiter?« Bei jedem einzelnen Wort schlug sie mit der Faust auf den Tisch, um der Frage Nachdruck zu verleihen.
    Maurie Herskowitz, der mit seinen Markenzeichen, dem grauen Jackett und der Gebetskappe, immer noch abseits vom Tisch auf seinem Stuhl im hintersten Winkel hockte, hob die Hand: »Ich glaube, wir haben es hier eindeutig mit einem erkenntnistheoretischen Problem zu tun.«
    Cross kniff die Augen zu und rieb sich die

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