Die Darwin-Kinder
ausgehärteten Schlamm. Das Fleisch versickert nach und nach, bei Erdbeben rasseln die Knochen. Als sich Risse im zu Stein gewordenen Schlamm auftun, können frisches Wasser und Schlick eindringen und den Hohlraum mit Schlamm einer anderen Dichte und Zusammensetzung füllen, der die Knochen schließlich an Ort und Stelle hält.
Endlich finden die Männer ihre Ruhe.
Mitch wusste, dass sie hier noch irgendwo waren.
Er blieb stehen und sah nach rechts auf eine Stufe, die Jahrhunderte der Erosion in das Steilufer gegraben hatten.
Anfangs konnte er nicht sehen, was seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, weil ihm das schmerzhafte Flimmern vor seinen Augen die Sicht nahm.
Das obere Ende der Abstufung im Stein gewordenen Schlamm befand sich fast zwei Meter über seinem Kopf. Es war von einer dunkelgrauen Schicht überzogen, die nur lose von Erde und Gestrüpp bedeckt war. In diesem Moment explodierte eine strahlend helle Kugel vor seinen Augen, sodass er nur noch etwas Braunes erkennen konnte, das horizontal im Gestein lag und nahezu glänzte.
Er wagte kaum noch zu atmen.
Mitch beugte sich mit hängendem Arm vor, stemmte die Knie gegen den Wall aus verwitterten Erdklumpen und Kieseln, streckte den rechten Zeigefinger aus und strich an der zusammengepressten grauen Asche und dem
zusammengebackenen Schlammgestein entlang.
Das, was sich von der gehärteten Schicht abhob, war fest. Es hätte der Knochen eines Rehs, einer Bergziege oder eines Dickhornschafes sein können.
Aber das war es nicht, es war Teil eines menschlichen Schienbeins, einer Tibia. Da es sich in dieser Schicht befand, musste es mindestens so alt sein wie die Knochen im Lager.
Während vor seinem rechten Auge Funken tanzten, griff er mit einer Hand nach unten und tastete nach einem weiteren kleinen Knochenstück, das er dort gesehen hatte, ein dunkelbrauner Talus im Geröll.
Er hielt den Knochen hoch und drehte ihn so lange, bis er ihn deutlich erkennen konnte. Er war klein, stammte aber ebenfalls von einem Menschen, zumindest von der Gattung Homo.
Gleich darauf schob er ihn wieder an die ursprüngliche Stelle zurück. Die Lage der Knochen würde sich als wichtig erweisen, wenn sie sich an die Untersuchung machten.
Er zog einen Zahnstocher aus der Jackentasche und bearbeitete damit den gehärteten Schlamm und die Asche rund um das Schienbein, bis er sich vergewissert hatte, dass es tatsächlich eines war, und kämpfte dabei minutenlang gegen den Schmerz in seinem Schädel an. Dann lehnte er sich zurück und zog die Knie an.
Er konnte es nicht länger verdrängen: Die Migräne war da.
Seit mehr als zehn Jahren hatte er keinen so schlimmen Anfall mehr erlebt. Der Zahnstocher fiel ihm aus der Hand, als er sich auf dem Boden zusammenkrümmte und versuchte, das Stöhnen zu unterdrücken.
Er schaffte es noch, einen Finger zu heben und über das halb vergrabene Knochenstück zu streichen.
»Hab euch gefunden«, murmelte er. Dann schloss er die Augen und spürte, wie sein eigener Lahar über ihm zusammenschlug.
33
New Mexico
Dickens Bildschirm zeigte jede Menge Vergleiche der Proteinexpression im Gewebe von Embryonen verschiedener Entwicklungsstadien. Er suchte nach dem schwer nachweisbaren Auslöser, der einem Retrovirus oder Transposon entstammte und sich in einen Komplex von Entwicklungsgenen eingeschlichen und zum Herausbilden des Jungfernhäutchens geführt haben mochte. Selbst wenn er sich auf frühere Untersuchungen und Vergleiche stützen konnte –
kaum zu glauben, aber in der Literatur hatte er tatsächlich einiges darüber gefunden –, sah es so aus, als könne der Nachweis Monate oder Jahre in Anspruch nehmen.
Dr. Jurie hatte Dicken auf die am wenigsten brisante oder interessante Position im Zentrum für Pathogene abgeschoben.
Hatte ihn sicher auf Eis gelegt, bis er gebraucht wurde.
Es war ein merkwürdiger Tanz, den Jurie da zwischen Nützlichkeitsdenken und dem Bedürfnis nach Sicherheit aufführte. Er hielt Dicken unter Kontrolle, um jederzeit zu wissen, wo er sich befand und was er vorhatte, vielleicht auch, um Dickens Gehirn anzuzapfen.
Oder auch, um ihm gegenüber Schuld einzugestehen? Wollte er, dass Dicken ihn auf frischer Tat ertappte?
Bei Aram Jurie konnte Dicken nichts ausschließen.
Der Mann hatte ihm via E-Mail eine ganze Reihe weitschweifiger, langer Mitteilungen geschickt, die rätselhaft, schwer zu deuten waren und für Dickens Geschmack allzu viele Anspielungen enthielten. Dicken hatte das Gefühl, dass Jurie
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