Die Darwin-Kinder
auf die gegenüberliegende Zimmerwand.
»Sie produziert derzeit neue Arten von Retroviren mit einer geringen Variationsbreite, elegante kleine Dinger, ganz anders als die zusammengeschusterten Monstrositäten, die sie früher erzeugte. Sie enthalten jetzt überhaupt keine Gene von Schweinen mehr. Keine dieser neuen Virenarten ist ansteckend, ja nicht einmal krankheitserregend, soweit wir wissen. Aber mit ihrem eigenen Immunsystem treiben diese Viren ein wirklich teuflisches Spiel. Bei den anderen Damen…
ist es genauso.«
Marian Freedmans Blick begegnete dem von Kaye, die ihre dunklen, müden Augen mit wachsendem Entsetzen musterte.
»Als Christopher Dicken das letzte Mal vorbeikam, hat er gemeinsam mit mir einige Proben untersucht«, sagte Freedman. »In noch nicht einmal einem Jahr, vielleicht schon in wenigen Monaten, werden unsere Damen, wie wir glauben, Symptome von Multipler Sklerose aufweisen, möglicherweise auch von Lupus.« Freedman biss sich auf die Lippen und schwieg plötzlich, ohne Kaye aus den Augen zu lassen.
»Und weiter?«
»Dicken ist der Meinung, dass diese Symptome nichts mit der Transplantation von Schweinegewebe zu tun haben. Es kann sein, dass die Damen nur etwas früher dran sind als andere Betroffene. Vielleicht ist Mrs. Rhine die Erste, die ein Post-SHEVA-Syndrom erleidet, eine Nebenwirkung der SHEVA-Schwangerschaft. Und das könnte sich als ziemlich schlimme Sache erweisen.«
Kaye brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten, konnte allerdings kein angemessenes Gefühl damit verbinden – nicht, nachdem sie Carla Rhine gesehen hatte.
»Das hat Christopher mir gar nicht erzählt.«
»Nun ja, das kann ich verstehen.«
Kaye wandte ihre Gedanken bewusst anderen Dingen zu, eine Überlebenstaktik, in der sie es in den letzten zehn Jahren zur Meisterin gebracht hatte. »Ich fliege nach Kalifornien, um mich mit Mitch zu treffen. Er sucht immer noch nach Stella.«
»Gibt es irgendwelche neuen Anhaltspunkte?«
»Noch nicht.«
Als Kaye aufstand, streckte Freedman ihr einen speziellen Abfalleimer mit der Aufschrift GEFÄHRLICHER BIOMÜLL
hin, damit sie ihr tränenfeuchtes Papiertaschentuch entsorgen konnte. »Gut möglich, dass Carla sich morgen völlig anders verhält. Wahrscheinlich wird sie mir erzählen, wie sehr sie sich über Ihren Besuch gefreut hat. So ist sie nun mal.«
»Ich verstehe.«
»Nein, tun Sie nicht.«
Kaye war in zu schlechter Stimmung, das auf sich sitzen zu lassen. »Doch, ich verstehs«, sagte sie nachdrücklich.
Freedman bedachte sie mit einem langen Blick und gab dann achselzuckend nach. »Entschuldigen Sie meine negative Haltung, aber die hat sich hier wie eine Seuche verbreitet.«
Nur zwei Stunden später nahm Kaye einen Flug in die andere Zeitzone, nach Kalifornien, und der Sonne damit die Möglichkeit, sich nach getaner Arbeit zur Ruhe zu begeben.
Von einem Getränkewagen, der durch den Gang geschoben wurde, wehten Gerüche nach Eis, Kaffee und Orangensaft herüber. Während sie dasaß und einen Beitrag über die Strafprozesse gegen frühere Vertreter des Krisenstabs vor dem Bundesgerichtshof verfolgte, biss sie die Zähne zusammen, damit sie nicht aufeinander schlugen. Ihr war nicht kalt; sie hatte Angst.
Fast ihr ganzes Leben lang hatte Kaye geglaubt, ein Verständnis der Biologie und der Funktionsweise des Lebens werde auch dazu führen, dass sie sich selbst besser verstand, Aufschluss über sich selbst erhielt. Wenn man wusste, was es mit dem Leben auf sich hatte, gab es für alles eine Erklärung: für den Anfang, das Ende und alles, was dazwischen lag. Aber je tiefer sie gegraben und je mehr sie begriffen hatte, desto weniger konnten all diese ausgeklügelten Mechanismen sie innerlich befriedigen. Zweifellos waren es Wunder, so große Wunder, dass die davon ausgehende Faszination auch für tausend Lebensspannen gereicht hätte, aber letztendlich stellten sie doch nicht mehr dar als ein unendlich verschlungenes Gehäuse.
Diesem Gehäuse waren Geburt und Bewusstsein zu verdanken, aber der Preis, den man dafür zahlte, war das wechselhafte Spiel von Kooperation und Konkurrenz, Partnerschaft und Verrat, von Erfolg auf Kosten anderer oder dem eigenen Versagen, das bei einem selbst Kummer und Tod auslösen konnte. Das Leben nährte sich vom Leben anderer und holte sich ein Opfer nach dem anderen – ein ungeheures Gemetzel, das zu Anpassung und höherer Intelligenz führte, des zeitweiligen Vorteils in der Evolutionskette wegen. Ein
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