Die Darwin-Kinder
vor und schüttelte den Kopf. »Ich versuche gerade, daraus schlau zu werden.«
»Strengen Sie Ihr Hirn noch mehr an«, drängte Dicken.
»Ich kann mir nur ein einziges Motiv vorstellen: dass es um die Expression von Retroviren geht. Dass sie untersuchen wollten, in welcher Weise die neuartigen Kinder auch neuartige humane endogene Retroviren exprimieren. Vielleicht handelt es sich um eine Stichprobenerhebung, die sie an Dutzenden oder Hunderten von Kindern vorgenommen und dann mit den Lebensläufen – soweit bekannt – und Belastungsmustern korreliert haben. Ein derart ehrgeiziges, umfassendes Projekt hat es noch nie gegeben. Es setzt ungeheure Anstrengungen voraus.«
»Mit welchem Ziel?«
»Vielleicht der Versuch, den ganzen Prozess zu begreifen. Zu verstehen, was die alten Viren vorhaben. Und welche Gefahr sie darstellen könnten.«
»Um das Auftreten von Shiver vorhersagen zu können?«, fragte Dicken.
»Daran wird anderswo bereits gearbeitet. Warum eine solche Forschung also hier betreiben, noch dazu ohne Genehmigung?«
»Weil man nirgendwo sonst Zugriff auf so viele neuartige Kinder hat, tote wie lebendige«, erwiderte Augustine.
»Das macht mich krank.« DeWitt stützte sich auf den kleinen Schreibtisch und schob die Mappe zur Seite.
Augustine sah zu Dicken hoch. »Ich bin in diesem Fall nicht derjenige, der die Fäden zieht, Christopher. Man hat mich schon vor Monaten zurück in Reih und Glied gepfiffen. Ich habe mich bemüht, die mir verbliebenen Verantwortlichkeiten wahrzunehmen, um irgendeinen Rest von Ordnung aufrechtzuerhalten.« Kraftlos deutete er mit dem Arm auf die Stahltüren. »Es hat Tote gegeben, Christopher.«
»Das hat Marion Freedman mir bei meinem letzten Besuch in Fort Detrick erzählt. Man braucht nur irgendeinen Vorwand, dann ist alles erlaubt. Sie sind also nicht der wahre Schurke?«, fragte Dicken.
»Waren da überhaupt wahre Schurken am Werk?«, entgegnete Augustine. »Wissen wir das so genau?«
»Was ist mit den Eltern?«, fragte DeWitt.
»Man muss auch auf Gefühle Rücksicht nehmen«, sagte Augustine. »Die medizinische Ethik sollte selbst in einer Krise Vorrang haben. Allerdings waren wir bislang auch noch nie mit einem derartigen Problem konfrontiert.«
Dicken nahm Augustines Arm und half ihm vom Stuhl. »Ein letztes Teilchen in der Beweiskette.«
Augustine ging langsam an den Seziertischen im molekularbiologischen Labor vorbei und musterte ungerührt die Sammlung teurer Apparate. Ihn konnte schon lange nichts mehr überraschen. Als Dicken hinten im Labor die Luke öffnete und die Neonröhren einschaltete, wurde ein langer schmaler Raum sichtbar. Alle zögerten einzutreten. Auf Stahlregalen, die bis zur Zimmerdecke reichten, standen Hunderte länglicher Pappkartons. Dicken zog einen der Kartons heraus und öffnete die heruntergeklappte Lasche. Er enthielt Oberschenkelknochen, die der Größe nach sortiert und beschriftet waren. In einer anderen Schachtel entdeckte er Finger- und Zehenknochen. In größeren Kartons rechts unten, etwas mehr als ein Meter lang, waren komplette Kinderskelette verstaut.
Augustine lehnte sich gegen das Regal. »Ich kann hier gar nichts tun. Wir alle können hier im Moment gar nichts tun.«
»Das ist noch nicht alles«, erklärte Dicken. »Oben ist ein ganzes Stockwerk, das wir noch gar nicht geöffnet haben.«
»Was wird dort oben Ihrer Meinung nach gelagert?«, fragte DeWitt. Ihr Gesicht war aschgrau.
»Es gibt nichts, was das hier entschuldigen könnte, Christopher«, bemerkte Augustine. »Das sollten wir nie vergessen. Aber was, zum Teufel, nützt es uns in dieser Situation, wenn wir unserer Wut nachgeben? Was nützt es den kranken Kindern?«
»Nichts, verdammt noch mal«, räumte Dicken ein. »Gehen wir.«
44
The Poconos, Pennsylvania
Nach der Anzeige am Armaturenbrett war es elf Uhr morgens.
Als Mitch von der zweispurigen Asphaltstraße nach links blickte, entdeckte er etwa dreißig Meter weiter den roten Plastikstreifen, der an einer hohen alten Kiefer befestigt war.
Er bremste ab und kurbelte das Fenster herunter. Der Wegweiser war noch da, allerdings hatte ihn irgendjemand so bearbeitet, dass er völlig schief stand.
George, Iris und Kelly MACKENZIE
war auf dem Holzschild zu lesen.
Mitch stieg aus, löste den Aufhängedraht und zog ihn durch die eiserne Halterung. Danach nahm er das Holzschild ab und verstaute es hinten im Jeep.
Die Blockhütte war aus glatt gehobelten Baumstämmen gezimmert, die aufgrund der
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