Die Datenfresser
vollständigen Archivierung und Analyse von allem verpflichtet, was ihre Angestellten während der Arbeitszeit taten.
International setzten sich immer mehr solcher Regelungen durch. Nach und nach waren dann Rechtskonstrukte gefunden worden, die per Einverständniserklärung, wie sie Robert gerade unterschrieben hatte, auch den zeitweisen Zugriff auf die Freizeitaktivitäten des Mitarbeiters erlaubten. Begründet wurde dies anfangs mit dem praktischen Problem, daß die besonders kriminellen Banker ihre Betrügereien und Insider-Geschäfte über private E-Mailaccounts und Telefone erledigen. Die Idee fand Nachahmer und hatte sich dann auf andere Bereiche ausgeweitet.
Die allgegenwärtige Aufzeichnung und Auswertung aller digitalen Arbeitsvorgänge hatten die Gewerkschaften zwar in einigen Branchen verhindern oder bremsen können. Dort, wo viel Geld oder wirklich wertvolle Informationen bewegt werden, etwa in Banken, Anwaltskanzleien und Beratungsunternehmen, gehört sie jedoch längst zum Alltag. Der Anpassungsdruck auf die oftmals pseudoselbständigen Mitarbeiter ist gewaltig, nur wenige können es sich noch leisten, entsprechende Ansinnen abzulehnen – zumal die Anzahl der Firmen, die darauf verzichten, ihre Mitarbeiter per algorithmischer Auswertung zu überwachen, stetig kleiner wird. Schließlich schaut ja in der Regel kein Mensch, sondern nur ein Computer auf die Rohdaten, solange es keine Auffälligkeiten gibt. Doch wenn etwas vom Normalen Abweichendes passiert sind die Anschuldigungen schnell zur Hand, daß keine Vorkehrungen nach dem üblichen Stand der Technik ergriffen worden seien.
Der Chef räuspert sich. Robert schreckt aus seinen Gedanken hoch. Zuerst stellt der Chef reihum die Mitarbeiter der Kanzlei vor. Zu Roberts freudiger Überraschung wird Maria als festangestellte Spezialistin für Buchhaltungsforensik vorgestellt, was bedeutete, daß sie nicht länger Praktikantin, sondern wohl vor kurzem endlich richtige Mitarbeiterin der Kanzlei geworden ist. Die übliche Praxis, voll ausgebildete Absolventinnen, besonders aber die Schnellgangstudenten, jahrelang als Praktikantinnen auszubeuten, ist leider auch in Roberts Kanzlei verbreitet.
Die Kanzlei hatte sich vor einigen Monaten bei der größten Plattform zur Vermittlung von Praktikanten registriert. Durch den guten Ruf standen die unbezahlten Arbeitskräfte regelrecht Schlange. Robert hatte im Auftrag des Chefs die gewünschten Eigenschaften der Praktikanten detailliert angegeben, automatisiert wurde der Kanzlei nun wochenaktuell ein Kandidat vorgestellt. Üblicherweise wurde vor den morgendlichen Meetings auf den Displaywänden ein Spot von etwa einer Minute gezeigt, der die Vorzüge des Kandidaten in kurzen Worten und vielen Bildern verdeutlichte.
Der Chef wendet sich nun an die beiden ausgesprochen unauffälligen Besucher und bittet sie, sich selbst vorzustellen. Er bedeutet gleichzeitig Maria mit einer Handbewegung, die Aufzeichnung zu stoppen, die in dem Besprechungsraum üblicherweise automatisch aktiviert ist. Das System erstellt sonst für die Kanzlei-Meetings unmittelbar nach Ende der Treffen ein schriftliches Protokoll. Offenbar möchte der Chef heute keinen Mitschnitt.
Der ältere der beiden Besucher, gutsitzender Anzug, graumeliertes Haar, ergreift das Wort. Er hat eine tiefe, leicht heisere Stimme: »Mein Name ist Frank Maxson, mein Kollege hier heißt Jules Veith. Wir sind Partner bei Decenture & Bridges, wie Sie sicher wissen, die größte Unternehmensberatung in der westlichen Welt. Wir vertreten hier die Interessen eines großen Klienten aus der BioPharm-Branche. Wir arbeiten an einer Firmenübernahme, bei der Ihre Gruppe einen Teil der Due dilligence übernehmen soll.« Due dilligence ist die Tiefenprüfung einer Firma, die zum Verkauf steht, durch Berater und Anwälte. Es geht darum, alle Aspekte zu durchleuchten, die dem Käufer später eventuell Schwierigkeiten bereiten könnten. Maxson fährt fort: »Die Übernahme, um die es hier geht, entspricht etwa fünfzehn Prozent des Gesamtumsatzes des BioPharm-Marktes, daher müssen wir außergewöhnlich strenge Sicherheitsvorkehrungen für die gesamte Transaktion einhalten. Ich denke, Sie haben dafür Verständnis.«
Er geht nach vorn zu Maria, aber anstatt ihr wie erwartet die Adresse eines Online-Dokumentendienstes mit der entsprechenden
Projekt- ID zu geben, reicht er ihr einen Speicherstick und tippt ein langes Paßwort ein, als die entsprechende Abfrage erscheint. Das ist
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