Die dem Mond ins Netz gegangen - Lene Beckers zweiter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
hörte. Dann kam Émile mit einem kleineren, drahtig wirkenden Mann zu seinem Tisch herüber. Unterwegs schien er schon zu erklären, wer Renaud war, denn Gislain begrüßte ihn gleich mit »Gislain Court. Bonsoir, Monsieur le Commissaire.« Ein höfliches Lächeln, ein eleganter Anzug.
» Wäre es möglich, zu mir in mein Lokal zu gehen, ich muss mich dort sehen lassen. Dann können wir uns in meinem Büro unterhalten, wenn Sie wollen.«
Renaud wollte. Sie gingen hinüber in das Restaurant. In dem von Kerzenlicht beleuchteten Raum saßen die Gäste jetzt beim Abendessen. Noch waren nicht viele Tische besetzt. Monsieur Court sprach erst mit dem einen Kellner, ging noch kurz an die Bar, im Vorbeigehen die Gäste begrüßend, und winkte Renaud dann durch in sein Büro, das weiter hinten zwischen Küche und Bartresen hinter einer schmalen, unauffälligen Tür lag. Diese Tür hatte jedoch ein verglastes Guckloch, wie Luc beim Hindurchgehen bemerkte. Interessant.
Das Büro war eine M ischung aus Zweckmäßigkeit und einer gehörigen Prise schwüler Atmosphäre, passend zur Bar. Nackte Skulpturen, wie Renaud sie schon vorn im Restaurantteil bemerkt hatte, die sich umschlangen, einige in eindeutiger Stellung. Neben seinem Sessel, etwa auf Augenhöhe, war ein abgewinkeltes Frauenbein nach oben gehoben, vor der Frauenskulptur ein kniender Mann, den Kopf zwischen ihren Schenkeln. Tja.
Renaud spü rte plötzlich kurz Sehnsucht nach der warmen Samthaut von Juana.
» Möchten Sie etwas trinken?«
» Nein, danke. Nicht im Dienst. Ich möchte auch gleich zum Grund meines Besuches kommen. Sie haben sicher von dem Mord an einem deutschen Mädchen gehört …« Renaud zögerte kurz, da fiel ihm Gislain Court schon ins Wort.
» Auch von dem Mord an dem zweiten Mädchen. Ich kann nur hoffen, dass Sie bald den Täter finden – es war doch ein und derselbe, was meinen Sie – denn sonst ist hier die Hölle los. Wie sollen wir den Leuten hier klarmachen, dass sich ein Mörder unter ihnen bef …«
Jetzt fiel ihm Renaud ins Wort. „Das wissen wir doch alles auch, Mo nsieur Court, aber genau darum geht es – dass Sie uns helfen. Sehen Sie sich bitte dies Foto an. Es zeigt das erste Mordopfer. Émile sagte, er hätte sie bei Ihnen hineingehen sehen. Ich hoffe so sehr, dass Sie sich erinnern. War sie hier? Und wann? Und vor allem – mit wem? «
Er hörte selbst, wie eindringlich seine Stimme g eworden war. Strich sich das Haar aus der Stirn und fühlte die Feuchtigkeit seiner Haut. Kein Wunder, es kam jetzt darauf an, es war der letzte Faden, den sie in der Hand hatten.
Ein freudloses Lächeln des Wiedererkennens ging über Gislain Courts G esicht.
» Mais , das ist ja Brischiit «, sagte er betroffen. Natürlich kenne ich sie. Sie hat an der Eisbar vorn bei George gearbeitet. Doch, sie war einmal mindestens hier.«
Endlich! Es fiel Renaud schwer nicht laut j auchzend aufzuspringen vor Erleichterung. Seine Stimme klang für ihn fremd vor Anspannung, als er die entscheidende Frage stellte.
» Und? Wissen Sie auch mit wem?«
» Nein, beim besten Willen nicht. Es kommen so viele Gäste hierher. Es war niemand Auffallendes, das ist sicher, weder im positiven noch im negativen Sinn. Durchschnitt, sonst hätte ich ihn mir gemerkt.«
Renaud wäre ihm am liebsten an die Gurgel gefahren und hätte ihn durchgeschüttelt. Er musste es einfach wissen! Ruhig, Monsieur le Commissaire , ermahnte er sich.
» Bitte, konzentrieren Sie sich. Am besten, Sie schließen die Augen und versuchen so entspannt wie möglich das Bild des Mannes vor Ihren Augen entstehen zu lassen, als ob Sie die Szene malen müssten. Bitte, versuchen Sie es.«
Er versuchte jeden flehenden Ton aus seiner Stimme herauszuhalten, aber es fiel ihm schwer. So viel hing von der Erinnerung dieses Mannes ab. Gehorsam schloss sein Gegenüber die Augen. Stille im Raum, nur durch die Tür klang sanft die Restaurantmusik. Tellerklappern. Dann endlich öffnete Court die Augen.
» Vage. Äußerst vage. Aber er war groß und eckig. Also kein zarter Mann. Auf einer Schulter – er trug ein schwarzes Achselhemd – könnte er vielleicht irgendein Tattoo haben. Aber nein, da bin ich mir nicht sicher. Er saß mit dem Rücken zu mir, sein Gesicht habe ich nicht gesehen oder zumindest nicht bewusst. Braunes oder dunkelblondes Haar. Ist immer ungenau bei unserer rötlichen Beleuchtung. Er hatte Brigittes Hände in seinen und redete sehr intensiv. Wollte sie wohl von etwas überzeugen.
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