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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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antiwestlich geprägten deutschen Konservativen an atlantische Westbindung und europäische Vereinigung heranzuführen, wobei ihm die kommunistische Bedrohung zu Hilfe kam: Niemand konnte sich dem pragmatischen Argument verschließen, dass gegen Moskau nur der Schulterschluss mit Washington half und dass sich auf diese Weise außerdem die jüngste Vergangenheit bequem verdrängen ließ. Das leuchtete auch jenen ein, die in den Amerikanern weiterhin kulturlose und von einem dekadenten Kapitalismus verseuchte Lümmel sahen, die Kaugummi kauten und zu eng anliegende Hosen trugen.
    Bevor Merkel im Januar 2009 mit ihren Parteifreunden in Erfurt in Klausur ging, hielt sie im »Kaisersaal« der Thüringer Landeshauptstadt eine Rede. Es handelt sich um das Veranstaltungslokal, in dem die SPD nach dem Ende des Sozialistengesetzes 1891 ihr legendäres Erfurter Programm beschloss. Dessen Grundgedanken fasste der Parteiideologe Karl Kautsky in dem Bonmot zusammen: Die SPD ist eine revolutionäre, aber keine Revolutionen machende Partei. Bei der CDU verhält es sich umgekehrt, wie Merkel in Erfurt demonstrierte: Die Union ist keine revolutionäre, aber eine Revolutionen machende Partei.
    Der SPD des Kaiserreichs half diese programmatische Verrenkung nicht. Die Partei eilte von Wahlsieg zu Wahlsieg, wusste damit aber nichts anzufangen. Die CDUscheint die Umwälzungen besser zu verkraften, nicht nur wegen ihres überbordenden Machtpragmatismus, sondern auch, weil sie damit zu eigenen, sozialpaternalistischen Wurzeln zurückkehrt. Zu den großen politischen Missverständnissen des zurückliegenden Jahrzehnts zählt die Annahme, der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder habe mit seiner »Agenda 2010« uralte Traditionsbestände der Sozialdemokratie abgeräumt. In Wahrheit ist der versorgende Sozialstaat in seiner spezifisch deutschen Ausformung fast ausschließlich das Werk der Konservativen.
    Die Sozialdemokratie favorisierte zunächst staatsferne Modelle der Selbstorganisation, trat für Mitbestimmung ein und wollte Kanäle des sozialen Aufstiegs öffnen. Erst Exponenten der politischen Rechten wie Reichskanzler Otto von Bismarck, Bundeskanzler Konrad Adenauer oder auch Unionsfraktionschef Rainer Barzel zwangen die SPD, ein System staatlich organisierter Statussicherung zu akzeptieren und auszubauen, das die Grundstruktur einer undurchlässigen Klassengesellschaft zementierte. Das gilt auch für die Sozialleistung, deren Abschaffung in den Auseinandersetzungen um Schröders Agendapolitik im Zentrum stand: für die Arbeitslosenhilfe. Sie war von Adenauer 1956 überhaupt erst eingeführt worden und gehörte zu jenem üppigen Paket neuer sozialer Leistungen, mit dem der erste Bundeskanzler den Wahlkampf 1957 vorbereitete. Das Manöver trug ihm die einzige absolute Mehrheit ein, die eine Fraktion im Deutschen Bundestag je errang. Bei der Arbeitslosenhilfe setzte sich Adenauer gegen die Fachleute des Finanzministeriums durch,die vor der Schaffung einer »ewigen Rente« für Erwerbslose warnten und unabsehbare finanzielle Lasten voraussagten.
    Gegen den Widerstand seines Wirtschaftsministers Ludwig Erhard setzte Adenauer zur gleichen Zeit das Prinzip der »dynamischen Rente« durch, das die Altersbezüge an die Entwicklung der Einkommen koppelte und das Rentenniveau auf einen Schlag um 65 Prozent emporschnellen ließ. Das Konzept ging auf: Bis heute ist die Rentnerklientel neben den Beamten das verlässlichste Wählerbataillon der CDU, die auf diese Weise zu einer Partei der Transferempfänger wurde. Damit folgte sie abermals dem Kalkül, das schon den Konservativen Otto von Bismarck bei der Einführung der Sozialversicherung geleitet hatte. Der erste Reichskanzler wolle ein Heer von Staatsrentnern schaffen, so lautete die Kritik der oppositionellen Sozialdemokratie, und der Arbeiterpartei damit die Wähler abspenstig machen.
    Das Spektakel wiederholte sich bei der Rentenreform von 1972, einem Lehrstück über »Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz«, wie der Historiker Hans Günter Hockerts schrieb. Erst auf Druck der CDU/ CSU verband die SPD-geführte Bundesregierung die geplante Absenkung des Rentenalters mit einer starken Anhebung des Rentenniveaus. Diesmal kam die Reform einer Wählerschaft entgegen, die von Willy Brandts anspruchsvoller Reformpolitik überfordert war. Die Parteien schlossen einen Kompromiss, schreibt Hockerts, der dem Bürger »eine Pause beim Mehr-Demokratie-Wagen gönnte und statt dessen

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