Die Deutsche - Angela Merkel und wir
öffentlich verspotten lassen. Wenig später ging Müller ins Plenum, zur Debatte über das Gesetz gegen Kinderpornografie im Internet. Es sprach ein FDP-Abgeordneter aus Lübeck. Als er ans Rednerpult trat, klatschten die Unionsabgeordneten noch. »Meine sehr geehrten Damen und Herren«, begann er, »ich darf für meine Fraktion sagen, dass wir die Gesetzesinitiativen der Opposition begrüßen.« Von CDU und CSU kam kein Applaus mehr, dafür von den vier übrigen Fraktionen. Abgesprochen war das nicht.
Merkel brauchte die alte Kohl-Koalition, um zu beweisen, dass auch sie Mehrheiten nach Art des Altkanzlerserringen kann, und um zu zeigen, dass ein Rechtsbündnis alten Stils heute nicht mehr funktioniert. Brunnhuber, der Konservative, kann sich darüber amüsieren. »Jetzt fragen alle: Wann packt die den Westerwelle?«, sagt er im Stuttgarter Café, da klammert sich der Außenminister für ein paar Monate noch am Parteivorsitz fest. »Sie wartet, bis er selbst gegen die Wand läuft.« So hat sie es schon mit Merz gemacht, mit Koch, mit Stoiber. Die Liste ist mittlerweile ziemlich lang. Im Mai 2010 kommt der nordrhein-westfälische Wahlverlierer Jürgen Rüttgers hinzu. »Die Kollegen, die Politik noch in Bonn gelernt haben, die verstehen das nicht«, sagt Brunnhuber noch. »Da braucht man Nerven. Die hatte Kohl anfangs auch. Später wurde er zu ungeduldig.«
Vielleicht lässt sich der Tag, an dem es mit dem Mythos von den letzten Konservativen in der CDU endgültig vorbei war, auf den 24. August 2012 datieren. Da wollten ein paar Dutzend Funktionsträger, darunter die Bundestagsabgeordneten Wolfgang Bosbach und Erika Steinbach, ein »Berliner Manifest« vorstellen. Die Runde nannte sich »Berliner Kreis«, sie wollte so etwas wie ein Gegenpol zu einer Vorsitzenden sein, die nach Ansicht der Akteure eine konservative Bastion nach der anderen schleifte. Nun sollte die diffuse Kritik, Merkel verrate die alten Ideale der CDU, unterfüttert werden – durch eine inhaltliche Definition dessen, was diese alten Ideale denn seien.
Daraus wurde nichts. Wenige Tage vor dem geplanten Termin wurde die Pressekonferenz abgesagt. »Aufgrund der Ferienzeit konnte die notwendige redaktionelle Endabstimmung der inhaltlichen Positionierung des BerlinerKreises wider Erwarten nicht mehr rechtzeitig erfolgen«, erklärte der hessische CDU-Fraktionsvorsitzende Christean Wagner der Welt etwas gespreizt. Kürzer formuliert hieß das: Die Runde hatte sich nicht darauf einigen können, was heutzutage unter »konservativ« zu verstehen sei. War damit ein eindeutiges Bekenntnis zur Atomkraft gemeint, das den technischen Fortschritt über die Bewahrung der Schöpfung stellt? Oder sollte es die Forderung nach einem Euro-Austritt Griechenlands sein, gegen die sich das konservative Idol Helmut Kohl mit letzter Kraft gestemmt hatte? Als der »Berliner Kreis« mehr als zwei Monate später doch noch ein weichgespültes Konsenspapier zustande brachte, enthielt es nicht einmal mehr ein klares Nein zur Homo-Ehe – zu jenem Rechtsinstitut also, das auch gleichgeschlechtlichen Paaren den Zugang zu einer konservativen Lebensform ermöglichen soll.
Was Merkel von der Debatte um den angeblich konservativen Kern der CDU wirklich hielt, gab sie im Januar 2010 so deutlich wie nie zu erkennen. Mit dem schwarzgelben Wahlerfolg im Rücken holte sie die Analyse des Wahlergebnisses nach, die sie nach ihrer fast gescheiterten Kampagne von 2005 so sorgfältig vermieden hatte. Wie es ihre Art ist, trug sie die provokanten Thesen nicht selbst vor. Stattdessen bestellte sie den Wahlforscher Matthias Jung in die Klausurtagung des CDU-Vorstands. Die Kritiker des Merkel-Kurses durften schon am Tag zuvor in der Berliner Zeitung lesen, was der Mannheimer Demoskop von ihnen hielt. »Katholiken mit starker Kirchenbindung« seien für das Wahlergebnis »nicht relevant«, erklärteJung. Schließlich stellten sie »nur noch acht Prozent der Wahlberechtigten«. Auch der Kleinbürger sei liberaler geworden: »Der röhrende Hirsch über dem Wohnzimmersofa ist nicht mehr der Inbegriff des Kleinbürgerlichen.« Angehörige dieses Sozialmilieus bekämen auch »keinen Schaum mehr vor dem Mund, wenn sich zwei Homosexuelle rechtlich binden«. Aus seinen Umfragezahlen folgerte der Experte schließlich: »Die Kritik an der Modernisierungsstrategie zeigt also eine gewisse Realitätsferne.«
Schon die Wahl der Begriffe demonstriert die Konfusion. Außenstehende Beobachter sprechen gern vom
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