Die Deutsche - Angela Merkel und wir
außer Acht. Der pauschale Vorwurf der Unfähigkeit macht politische Richtungsfragen offenkundig irrelevant.
Die Deutschen sind in ihrer großen Mehrheit sehr wohl konservativ, aber in einem anderen Sinn. An diesen spezifischen Konservatismus der Westdeutschen musste sich Merkel im Verlauf ihrer politischen Karriere erst mühsam gewöhnen. Die Deutschen sind über die Jahrzehnte zwar liberaler und offener geworden, und die wichtigste Phase dieser gesellschaftlichen Modernisierung fiel sogar in die Amtszeit Helmut Kohls. Die erste rot-grüne Bundesregierung musste diese Entwicklung nur noch notariell beglaubigen. Die Kanzlerschaft der untypischen Christdemokratin Angela Merkel wäre ohne diesen Vorlauf nur schwer vorstellbar gewesen.
Trotz dieses Wandels hält sich die Bereitschaft zu durchgreifenden Veränderungen aber in engen Grenzen, das istin den meisten westlichen Demokratien so. Von allen Regierungsformen besitzt die Mehrheitsherrschaft vermutlich die größten Beharrungskräfte, wie schon Bismarck bei der Einführung des allgemeinen Reichstagswahlrechts wusste. In den saturierten Gesellschaften des Westens kommt die Angst vor Wohlstandsverlusten hinzu. In Deutschland wird das Phänomen durch den Föderalismus und die häufigen Wahlen verstärkt, auch durch das Verhältniswahlrecht, das zu nicht immer einfachen Koalitionen zwingt. Dieses konservative Element war nicht immer nur ein Fluch, sondern oft auch ein Segen. Die vielgerühmte industrielle Basis der deutschen Exportwirtschaft stünde heute nicht so gut da, wenn die Politik den modischen Wandel zu einer reinen Dienstleistungsgesellschaft mit größerer Durchschlagskraft hätte vorantreiben können. Auch haben sich die deutschen Lebenswelten in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten bereits erheblich verändert und beschleunigt. Der Modernisierungsschock, der den Osten des Landes mit der Währungsunion vom Sommer 1990 traf, pflanzte sich mit einer gewissen Verzögerung auch in die weiter westlich gelegenen Regionen fort.
Sprach man in den frühen Jahren der Parteivorsitzenden Merkel mit jüngeren CDU-Politikern, die den Modernisierungskurs befürworteten, dann hörte man oft den Satz: Warten Sie nur, in ein paar Jahren ist die CDU eine andere Partei. Das ist sie heute tatsächlich, und eine der Volten auf diesem Weg betraf die Atompolitik.
KAPITEL 4:
ATOM
Am 15. September 2010 lernten die Zuhörer im Reichstag die vermeintliche Konsenskanzlerin von einer anderen Seite kennen. Fast ein Jahr war vergangen, seit Merkel von der großen Koalition mit der SPD ins Bündnis mit der FDP gewechselt war. Am Abend der Bundestagswahl hatte sie angekündigt, sie wolle weiterhin »die Bundeskanzlerin aller Deutschen sein«. Nach diesem Prinzip hatte sie zunächst auch regiert und in der Zwischenzeit kaum etwas entschieden, jedenfalls nichts, was einen größeren Teil der Deutschen gegen die Regierungschefin hätte aufbringen können. Im Frühjahr war sie nicht umhin gekommen, eine Staatspleite Griechenlands zu verhindern, und im Frühsommer war der von ihr erkorene Bundespräsident Horst Köhler überraschend geflüchtet. Aber die Debatte um den Euro hatte sich vorübergehend wieder beruhigt, und den Rücktritt des Staatsoberhaupts hatte Merkel genutzt, um einen ihrer letzten innerparteilichen Gegner ins Schloss Bellevue abzuschieben.
Umso erstaunlicher erschien der Auftritt, den sie an diesem Tag in der Haushaltsdebatte des Bundestags hinlegte.Nach Konsens klang in ihrer langen Rede nichts, stattdessen suchte sie die Konfrontation ausgerechnet bei Themen, bei denen die Opposition einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung hinter sich wusste. Frontal griff sie die Wutbürger an, die gegen das Projekt eines Tiefbahnhofs in der baden-württembergischen Landeshauptstadt protestierten. »Die Grünen sind immer für die Stärkung der Schiene. Wenn es aber einmal um einen neuen Bahnhof geht, sind sie natürlich dagegen«, rief sie ins Plenum. »Diese Art von Standhaftigkeit ist genau das, was Deutschland nicht nach vorne bringt.« Die Landtagswahl im kommenden Frühjahr, kündigte sie an, werde »die Befragung der Bürger über Stuttgart 21« sein.
Vor allem aber ging Merkel bei einem anderen Thema aufs Ganze. »Wir tun den Menschen keinen Gefallen«, erklärte sie, »wenn wir aus ideologischen Gründen die Kernkraftwerke abschalten.« Im internationalen Wettbewerb ergebe es keinen Sinn, »ideologiegetriebene Energiepolitik zu machen«. Zehn Tage zuvor hatte Merkel auf
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