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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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einem »Atomgipfel« im Kanzleramt den Atomkonsens der rot-grünen Regierung aufgekündigt und die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert. Überall im Land waren wieder die gelb-roten Aufkleber mit der Aufschrift »Atomkraft? Nein danke!« zu sehen. Sie verbreiteten ein nostalgisches Flair wie Retro-Sneaker oder braun-orange gemusterte Siebzigerjahre-Tapeten. In einer merkwürdigen Inszenierung, die nicht ganz echt wirkte, spielte die Republik die Kontroversen aus der alten Bundesrepublik noch einmal nach. Das geschah ausgerechnet unter einer Kanzlern, die angeblichso perfekt den Konsens des schwarz-grünen Neo-Bürgertums verkörperte und mit ihrem Pragmatismus für ein ideologiefreies Deutschland stand.
    Die Motive, aus denen sich Merkel im Spätsommer 2010 in eine Lagerkanzlerin verwandelte, lagen auf der Hand. Der zermürbende Steuerstreit mit der FDP hatte das erste halbe Jahr der Legislaturperiode beherrscht, dann war die nordrhein-westfälische Landtagswahl verloren gegangen. Mit Blick auf die bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg suchte die CDU-Vorsitzende nach einem schwarz-gelben Identitätsthema für die eigene Kernwählerschaft. Sollte in Stuttgart der Grüne Winfried Kretschmann neuer Ministerpräsident werden oder gar ein no name von der SPD, wäre es für die CDU ein Debakel. Merkel musste zeigen, dass sie in dem neuen Bündnis nicht alles genauso machte wie zuvor mit den Roten.
    Die Maxime galt umso mehr, als in den südlichen Bundesländern andere Regeln für die Wählermobilisierung zu beachten waren als in der übrigen Republik. In nördlicheren Gefilden ging es darum, die Kanten des CDU-Profils abzuschleifen und die Partei so weit wie möglich in Richtung Mitte zu rücken. Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen, Christian Wulff in Niedersachsen oder Ole von Beust in Hamburg waren damit zumindest zeitweise erfolgreich. Im Süden war die recht gefestigte Anhängerschaft dagegen nur mit einem Lagerwahlkampf zu mobilisieren, jedenfalls glaubten das die Strategen. In Bayern brauchte man sich darum keine Sorgen zu machen, dort erledigte die CSU das alleine. In Baden-Württemberg war es auch die Aufgabe der CDU-Bundesvorsitzenden.
    Bei der Berliner Regierungsbildung im Herbst 2009 hatte Merkel schon vorgebaut. Lange war gerätselt worden, wen sie als EU-Kommissar nach Brüssel schicken würde, an Stelle des Sozialdemokraten Günter Verheugen. Würde ihre Wahl auf den alten Vertrauten Peter Altmaier fallen, der als früherer EU-Beamter die Materie gut kannte, auf Peter Hintze, den einflussreichen Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen CDU-Landesgruppe im Bundestag, oder auf ihren Rivalen Roland Koch, der nach seiner Beinahe-Niederlage gegen die Sozialdemokratin Andrea Ypsilanti schwer angeschlagen war?
    Nichts davon trat ein. Noch am Tag, an dem die Koalitionsvereinbarung geschlossen wurde, tat die CDU-Zentrale geheimnisvoll. »Sie werden alle überrascht sein«, hieß es. So kam es. Der Name des Erwählten lautete Günther Oettinger. Merkel erhörte die Rufe ihrer Vertrauten aus Baden-Württemberg und erlöste sie von einem unpopulären Regierungschef, der als Mitglied des gegen Merkel gerichteten Andenpakts gern den Rivalen der Kanzlerin gab. Es war nicht allein die missratene Trauerrede für den verstorbenen Vorgänger Hans Filbinger, die seinem Ansehen abträglich war. Oettinger hatte auch andere Gelegenheiten genutzt, sich um Kopf und Kragen zu reden. So verglich er sich in einem Interview mit seinem Vorgänger Lothar Späth, der »als Nachfolger von Kohl gesehen wurde und ihn am Ende fast stürzte«. Auf die Nachfrage, ob er damit der Kanzlerin drohen wolle, fügte er hinzu: »Ich bin jetzt drei Jahre Regierungschef, also warten Sie mal ab.« Jedenfalls traue er sich jedes Amt in Berlin zu. »Die kochen ja auch nur mit Wasser.«
    Mit Blick auf Oettinger mochte Merkels Entscheidung also plausibel sein, nicht aber mit Blick auf den Mann, auf den die Nachfolge am Ende zulief: Stefan Mappus, der ehrgeizige Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion, setzte sich gerne als bulliger und polternder Wiedergänger des konservativen Idols Franz Josef Strauß in Szene. Seine Nominierung sollte sich wenig später als fataler Fehler erweisen. Die Rochade hatte sich Merkel offenbar von zwei Vertrauten einreden lassen, von ihrer Bildungsministerin Annette Schavan und ihrem Fraktionschef Volker Kauder. Dazu muss man wissen, dass Kauder der Patenonkel eines der

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