Die Deutsche - Angela Merkel und wir
gedreht.
Einiges spricht dafür, dass sich Merkel im Spätsommer 2010 aus ähnlichen Gründen zur Atom-Offensive entschloss wie zwei Wahlperioden früher zu ihrem Plädoyer für den Irak-Krieg. Sie wählte das Thema demnach nicht, weil sie die Atom-Angst oder den Pazifismus der Deutschen unterschätzte. Sie suchte es gerade deshalb aus, weil es den größten Knalleffekt versprach. Wie könnte sie besser einen Winter lang die Lagerkanzlerin spielen als mit einer wütenden Schar von Demonstranten vor dem Kanzleramt? Womit könnte sie konservative Männer in Süddeutschland besser beeindrucken als mit völliger Furchtlosigkeit angesichts der unsichtbaren Gefahren des Atoms? Wenn es ein Thema gab, das in Deutschland als ähnlich abgründig galt wie ein Militäreinsatz, dann war es dieses. Während der Jahrzehnte des Ost-West-Konflikts war das Wörtchen »Atom« fast untrennbar mit dem Wort »Krieg« verbunden, weshalb die Energiekonzerne vergeblich versuchten, das unbelastete Wort »Kernenergie« durchzusetzen. Bei beiden Themen ging es um die Standhaftigkeit der Realpolitiker gegenüber den Furchtsamen, die aus lauter Angst bereit waren, sich von den Finsterlingen dieser Welt überrollen zu lassen oder wieder ohne Strom auf den Bäumen zu sitzen.
Merkel ging aufs Ganze, wie immer, wenn sie sich einmal entschieden hat. Kurz vor dem Treffen im Kanzleramt unternahm sie eine »Energiereise«. Sie besuchte unteranderen das Atomkraftwerk Emsland und ließ sich mit dem RWE-Manager Jürgen Großmann fotografieren, dem Gottseibeiuns der Atomkraftgegner. Der Andrang der Journalisten war beträchtlich, der Gruselfaktor hoch. Kühlturm, Reaktorkuppel und Abluftkamin ragten in den trüben norddeutschen Himmel, aus dem es den ganzen Tag regnete. Graben, Betonzaun, Stacheldraht weckten Erinnerungen an die DDR und ließen zugleich an das Kraftwerk aus den »Simpsons« denken, in dem ausgerechnet der Tolpatsch Homer als Sicherheitsinspektor amtiert. Auf Eisenbahnwaggons dampften Rohre in der kühlen Luft.
Die Medienleute warteten in der Kantine. Plötzlich stand Großmann da, im fahlen Neonlicht neben den Gummibäumen. Der massige Mann, der immer ein bisschen an den Schauspieler Peter Ustinov erinnert, griff sich mit seinen fleischigen Händen die Suppenkelle, schöpfte aus einem großen Topf eine ordentliche Portion westfälische Hochzeitssuppe und nahm ein belegtes Brötchen vom Tablett. Das Wasser rann ihm von der Stirn, man wusste nicht genau, ob er schwitzte oder ob es nur Regenwasser war. Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen. »Ich kenn’ sie ja nun schon ein paar Jahre«, sagte er lässig über die Bundeskanzlerin, mit deren Vorgänger er gerne schweren Rotwein getrunken hatte. Nach der Anzeigenkampagne des Managers und seiner Freunde kämpfte Merkel darum, nicht als Vollzugsorgan der Atombranche zu erscheinen. »Bei mir ist das immer so: Wenn irgendetwas in Richtung einer Drohung oder eines Gepresstwerdens führt, dann führt das bei mir meistens zu einer totalen Gegenbewegung«, hatte sie gerade in einem Interview gesagt.
Merkel ließ sich in der Atompolitik zwar vom Machtkalkül leiten, ihre Furchtlosigkeit im Angesicht des Atoms war aber nicht nur vorgetäuscht. Hier kommt die Physikerin ins Spiel. Nicht alles an der Politik der Kanzlerin lässt sich mit dem Studienfach erklären: In machtpolitischen Fragen handelt sie oft wie der Historiker Helmut Kohl, ihr distanzierter Blick auf politische Versuchsanordnungen hat viel stärker mit der Perspektive der Außenseiterin zu tun. Doch in Fragen der Atomphysik ist ihr früherer Beruf durchaus von Belang.
Merkel stolperte nicht unvorbereitet in das Atomthema hinein. In ihrer Zeit als Umweltministerin, zwischen 1994 und 1998, hat sie die westdeutsche Anti-Atom-Bewegung gründlich kennengelernt. Sie diskutierte damals am Bauzaun von Gorleben über das staatliche Gewaltmonopol, sie setzte die Castor-Transporte durch – und stoppte sie, als Berichte über undichte Behälter zur Gefahr für die Ministerin wurden. So viel wusste sie damals schon über politische Taktik. Im Hin und Her um die Castoren vollzog sie im Kleinen jene Kehrtwenden, die sie im Großen beim Atomausstieg wiederholen sollte.
Grundsätzliche Zweifel an der Beherrschbarkeit der Technik ließ sie als Ministerin nicht erkennen. Im Bergbau habe es mehr Tote gegeben als in der Kernenergie, pflegte sie zu sagen. Im Wendland wird der Satz kolportiert, mit dem Merkel Probleme im Umgang mit Atommüll
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