Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Ergebnis. Schon am 6. Juni beschloss das Bundeskabinett nicht nur die Rücknahme der Laufzeitverlängerung, sondern einen schnelleren Ausstieg aus der Atomkraft als zuvor unter Rot-Grün geplant – verbunden mit dem Konzept einer umfassenden »Energiewende«. Als Bundestagspräsident Norbert Lammert am 9. Juni die Parlamentssitzung eröffnete, verlas er eine schier endlose Liste der zu ändernden Gesetze.
Es wird oft gesagt, Merkel habe ihre Kehrtwendung in der Atomfrage nie begründet. In dieser Form stimmt das nicht. Ob man ihr die angegebenen Gründe abnimmt oder nicht, in ihrer Regierungserklärung an jenem Donnerstagvormittag ging sie ausführlich auf die Frage ein. »Die dramatischen Ereignisse in Japan«, erklärte sie, »waren ein Einschnitt auch für mich ganz persönlich.« Sie habe »zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können«. Deshalb habe sieeine neue Bewertung vorgenommen: »Das Restrisiko der Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist, dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. Wenn es aber eintritt, dann sind die Folgen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Dimension so verheerend, dass sie die Risiken aller anderen Energieträger bei weitem übertreffen.« Dabei gehe es ausdrücklich nicht um die Frage, ob ein Erdbeben oder eine Sturmflut japanischen Ausmaßes in Deutschland möglich sei.
Es war ähnlich wie mit Merkels späteren Wendungen in der Euro-Politik: Gegen die neue Position konnte die Opposition wenig einwenden, weil die Kanzlerin fast wörtlich deren Position übernahm. Am 30. Juni 2011 beschloss der Bundestag den Atomausstieg, mit Ausnahme der Linken stimmten alle Fraktionen zu. Aus dem Regierungslager votierten nur sieben Abgeordnete mit Nein, von der SPD zwei, von den Grünen niemand. Die Partei, die als erste für das Ende der Kernenergie in Deutschland eingetreten war, hatte sich auf einem Sonderparteitag in einer leidenschaftlichen Debatte zu der souveränen Entscheidung durchgerungen: Sie blieb der eigenen Position treu, auch wenn sie jetzt von einer christdemokratischen Kanzlerin vertreten wurde. Die Grünen bekannten sich damit zu dem gesellschaftlichen Sieg, den sie nach drei Jahrzehnten errungen hatten.
Erstaunlicherweise blieb an der Kanzlerin wenig hängen. Dass sie von einer breiteren Öffentlichkeit weder für die Verlängerung der Atomlaufzeiten noch für die fatale Personalauswahl in Baden-Württemberg zur Rechenschaft gezogen wurde, hatte sie zu wesentlichen Teilen der Katastrophevon Fukushima zu verdanken. Der »Herbst der Entscheidungen«, zu dem Merkel das zweite Halbjahr 2010 stilisierte, hatte seinen taktischen Zweck erfüllt. Die Nachrichten aus Japan boten nun die Gelegenheit zu einer Rückkehr in den gesellschaftlichen Mainstream, der ohne einen solchen Anlass schwierig geworden wäre. Der traurige Ministerpräsident Stefan Mappus, den Merkel selbst ins Amt gebracht hatte, galt nun als ein weiterer lebender Beweis, dass die CDU mit betont konservativen Positionen selbst in Baden-Württemberg keine Wahlen mehr gewinnen könne, dass also die Erneuerung der CDU, für die Merkel einmal stand, ohne vernünftige Alternative sei.
Natürlich setzten auch bei der Energiewende, wie bei allen Großreformen in der Politik, rasch die Friktionen ein. Die große Überraschung bestand darin, dass Merkels Wende den Ausbau der erneuerbaren Energien schneller als erwartet in Gang brachte, die Preise an der Strombörse sanken – und das Förderprogramm für die Sonnenenergie, das den Erzeugern feste Abnahmepreise garantierte, deshalb immer teurer wurde. Einen Höhepunkt erreichte die Aufregung im Herbst 2012, als bekannt wurde, dass die Stromkosten für den Durchschnittshaushalt dadurch um rund fünf Euro pro Monat steigen würden.
Merkel zeigte sich vom Anstieg der Ökostrom-Umlage selbst überrascht. Aber zugleich erschienen ihr die Deutschen einmal mehr wie unmündige Kinder: Jetzt hatten sie den Atomausstieg bekommen und damit ihren Willen, und nun war es ihnen wieder nicht recht – aufgrund der Konsequenzen, die doch ganz zwangsläufig und offensichtlich damit verbunden waren. Merkel klingt in solchenSituationen wie eine Mutter, die ihrem quengelnden Kind nachgegeben und ihm endlich ein großes Eis gekauft hat. Nun muss sie sich anhören, dass der Appetit doch größer war als der Hunger und dass dem Nachwuchs von der Kalorienbombe übel
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