Die Deutsche - Angela Merkel und wir
als liebe Gewohnheiten oder allzu kuschelige Sicherheitskissen anzusehen.
Man muss die konservative Kritik an Merkels Politik deshalb von der Kritik des Wirtschaftsflügels unterscheiden. Zeitweise wurden die beiden Strömungen als Einheitsfront gegen eine CDU-Vorsitzende wahrgenommen, die ihre Partei nach dem Vorbild des frühen Helmut Kohl stärker in die politische Mitte rücken wollte. In Wahrheit handelt es sich um zwei grundverschiedene Weltanschauungen. Auch deshalb konnte sich die erste Frau an der Parteispitze gegen ihre Widersacher stets behaupten.
Der Ausbruch der Finanzkrise im Herbst 2008 erschütterte Merkels Zutrauen in den Kapitalismus nicht grundsätzlich.Wohl aber ließ die Krise in ihren Augen das Ansehen der Wirtschaftsexperten und eines Teils der Wirtschaftselite rapide schwinden. In den Jahren vor dem großen Bankencrash 2008 hatten die Sachverständigen die Zögerlichkeit und Inkompetenz der politischen Klasse angeprangert und bei ihren Auftritten in Talkshows für jedes Problem eine Lösung präsentiert, deren Praxistauglichkeit sie nie unter Beweis stellen mussten. Nun waren sie vollkommen überrascht von dem, was nach dem Platzen der amerikanischen Immobilienblase und dem Zusammenbruch der Lehman-Bank in der globalen Finanzwirtschaft geschah.
Mit dem Versuch, politische Entscheidungen an Experten zu delegieren, waren beide politischen Lager bereits zuvor gescheitert. Die Einschaltung des Steuerfachmanns Paul Kirchhof in den Bundestagswahlkampf 2005 kostete die CDU-Vorsitzende Merkel beinahe die schon sicher geglaubte Kanzlerschaft. Ihr sozialdemokratischer Vorgänger Gerhard Schröder verlor die Wahl vor allem deshalb, weil er die Vorschläge einer Expertenkommission um den VW-Personalvorstand Peter Hartz in die Praxis umgesetzt hatte. Aus Sicht der Politik hatte sich das Expertenprinzip in dreifacher Hinsicht desavouiert. Die Ratschläge führten nicht nur zu erheblichen politischen Friktionen. In einer komplexen Gesellschaft riefen sie auch auf der sachlichen Ebene unerwartete Folgewirkungen hervor, wenn etwa nach einer Steuerreform die Staatseinnahmen weit stärker einbrachen als erwartet. Schließlich mussten die Politiker zur Kenntnis nehmen, dass die Experten nach dem Misserfolg ihrer Konzepte abtauchtenund die Regierenden mit dem Volkszorn allein ließen.
Den Gefahren einer Wirtschaftspolitik auf Pump blieb sich Merkel im Krisenwinter 2008/09 bei allen Konjunkturprogrammen stets bewusst. Dass bedeutende Medien Ende 2008 die Konjunkturprogramme erst herbeischrieben, um Anfang 2009 die steigende Staatschuld zu beklagen, hat das Ansehen des Journalismus in ihren Augen nicht gehoben. Schon ein Jahr vor Ausbruch der Euro-Krise warnte sie vor den Folgen der hohen Schulden, die andere Länder aufgrund der Bankenkrise auftürmten. »Woanders werden im Augenblick dramatisch mehr Schulden gemacht als bei uns«, sagte sie Anfang 2009 in einer programmatischen Grundsatzrede vor der Berliner Industrie- und Handelskammer. »Die Krise ist ja nicht daraus entstanden, dass man keine Schulden gemacht hat, sondern die Krise ist mit daraus entstanden, dass zu viele Schulden gemacht wurden. Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht in der Bekämpfung der Krise schon wieder die nächste Krise vorzeichnen.«
Die protestantische Abneigung gegen die Schuldenmacherei reicht bei Merkel tief. Im Sommer 2009 berief sie sich oft auf den letzten Aufsatz des gerade verstorbenen Soziologen Ralf Dahrendorf. Der Titel lautete: »Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik?« Darin beklagte der Deutsch-Brite den »Weg vom Sparkapitalismus zum Pumpkapitalismus«, den die westlichen Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten zurückgelegt hätten. Letztlich führte er die Auslagerung industrieller Produktion in andere Weltregionen auf diesen kulturellen Wandel zurück:Echte Wertschöpfung finde heute nur noch in Ländern statt, in denen die (an keine bestimmte Religion gebundenen) protestantischen Werte noch gültig seien. Dahrendorf war nicht so naiv, an eine Rückkehr zu alten Verhältnissen zu glauben, zumal er im Anschluss an seinen älteren Kollegen Bell die Widersprüche des Konsumkapitalismus durchaus sah. Aber er plädierte doch für die »Wiederbelebung alter Tugenden« und erinnerte an die »ständigen Mahnungen zum Maßhalten«, die der Kapitalismus-Skeptiker Ludwig Erhard den Westdeutschen erteilt hatte. »Alles Schuldenmachen hat Grenzen«, lautete Dahrendorfs Fazit, das auch als politisches
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