Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Mantra der Bundeskanzlerin durchgehen könnte.
Einen weiteren Einblick in ihr wirtschaftspolitisches Grundverständnis gewährte Merkel, als sie Ende September 2010 in Berlin den 48. Deutschen Historikertag eröffnete. Sie stimmte der These des damaligen Verbandspräsidenten Werner Plumpe zu, »dass Wirtschaftskrisen unvermeidlich zur modernen Wirtschaft gehören und sie für Fortschritt und Entwicklung sogar wichtige Funktionen erfüllen«. Es gehe nicht darum, sich zynisch mit einem Auf und Ab der Konjunktur abzufinden – sondern darum, »dass sich Staaten nicht verleiten lassen dürfen, sich Wirtschaftswachstum über Schulden erkaufen zu wollen«.
Merkels protestantische Absage an eine Politik des laxen Geldes, die Schulden in die Nähe von »Schuld« rückt, hat mit Kapitalismus im ursprünglichen Sinn wenig zu tun. Dessen historische Dynamik entfaltete sich durch die Ansammlung von Kapital, das in der Hoffnung auf künftigeGewinne investiert wurde. In der Abkehr von diesem Prinzip steckt das Eingeständnis, dass Wachstumsraten wie in den Nachkriegsjahrzehnten in den Ländern des entwickelten Westens nicht mehr zu erwarten sind. Tendenziell abnehmende Bevölkerungszahlen erhöhen das Risiko einer wachsenden und am Ende nicht mehr tragbaren Pro-Kopf-Verschuldung zusätzlich.
Das Bekenntnis zu Kapitalismus und Marktwirtschaft, das Angela Merkel 1990 in der Berliner Zeitung ablegte, würde sie heute wohl anders akzentuieren. Vermutlich würde sie das Konzept, die Wirtschaft »nur« noch über den Wettbewerb und den Markt zu steuern, nicht mehr rundheraus als »phantastisch« bezeichnen – sondern das Wort von den »Leitplanken« bemühen, mit denen der Staat dieses Spielfeld begrenzen müsse. An ihren protestantischen Grundüberzeugungen, die eher lebenspraktischer als dogmatische Natur sind, hält sie gleichwohl fest. Damit widerspricht sie einmal mehr vorherrschenden Meinungen in der deutschen Bevölkerung. Von akuten Krisensituationen abgesehen, wird die Bedeutung des Wirtschaftswachstums hierzulande eher gering veranschlagt. In einer Umfrage für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ermittelten das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und die Meinungsforscher von Infratest Anfang 2013, dass die Höhe des Bruttoinlandsprodukts unter den politischen Prioritäten der Deutschen sehr weit hinten rangiert.
Die Deutschen wüssten sehr genau, »wie« sie leben wollen, registriert die Kanzlerin bisweilen im kleinen Kreis, machten sich aber wenig Gedanken darüber, »wovon« siein Zukunft noch leben könnten. Auch hier bleibt die Übereinkunft der Kanzlerin mit ihrem Volk deutlich hinter dem Bild zurück, das ihre Popularitätswerte vermitteln. Womöglich gehört auch dies zur protestantischen Wirtschaftsethik: dass die Leute eine strenge Zuchtmeisterin mögen, die ihnen gelegentlich ein schlechtes Gewissen macht – vor allem dann, wenn aus diesen Worten im eigenen Land keine unangenehmen Taten folgen. Die Machtpolitikerin Merkel richtet sich danach.
KAPITEL 9:
MACHT
Es war im Schlussspurt des Wahlkampfs 2009 in der Hansestadt Stralsund, Angela Merkels eigenem Wahlkreis. Ein westdeutscher Tourist kam auf die Kanzlerin zu, er wolle so gerne eine schwarz-grüne Regierung, was er dann denn wählen solle. Merkel biss sich auf die Zunge. Sie habe tapfer gesagt, was sie in allen Interviews sage, erzählte sie später. Dass mit beiden Stimmen CDU wählen müsse, wer sie als Kanzlerin behalten wolle. Dass ihr Ziel Schwarz-Gelb sei, selbstverständlich.
Nur in Augenblicken wie diesem ließ Angela Merkel kurz aufblitzen, dass sie sich noch etwas anderes hätte vorstellen können als Schwarz-Gelb oder Schwarz-Rot, die beiden Alternativen, auf die der Wahlkampf am Ende zuzulaufen schien, und es sie durchaus reizen könnte, zur ersten schwarz-grünen Kanzlerin zu werden. Nicht nur die politischen Farbkombinationen aus der Bonner Republik zu wiederholen, sondern etwas wirklich Neues zu beginnen. Die große Koalition hinter sich zu lassen und doch die schroffe Lagerbildung zu vermeiden, die mit einer schwarz-gelben Regierung verbunden ist.
Merkels Leute in der CDU rechneten damals vor, wie das gehen könne. Die Union müsste lediglich die Stimmen von der FDP zurückholen und der Marke von 40 Prozent nahe rücken. Die Grünen müssten ohne linke Scheuklappen ihr Wählerpotenzial als konsensfähige Partei der liberalen Mitte endlich ausschöpfen – und an die Macht wollen, auch wenn sie mit der SPD keine Mehrheit
Weitere Kostenlose Bücher