Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Merkel ihn politisch nicht wollen. Über weitere Motive lässt sich nur spekulieren: Kannte sie ihn so gut, dass er ihr aus Gründen seiner Persönlichkeit ungeeignet erschien? Konnte sie aus Proporzgründen keinen Kandidaten propagieren, der ebenfalls den Stallgeruch des ostdeutschen Pfarrhauses in seinen Kleidern trug? Wollte sie sich diesmal den Kandidaten demonstrativ aufnötigen lassen, um für ein neuerliches Fiasko im Schloss Bellevue nicht verantwortlich zu sein? Dass die Bevölkerung mit ihrem neuen Präsidentensehr zufrieden ist, trägt zu dem gesellschaftlichen Wohlfühlklima bei, das »Momente der Harmonie« zwischen den Deutschen und ihrer einst so fremden Kanzlerin schuf, wie es der Journalist Bernd Ulrich schon im Frühjahr 2012 formulierte.
Merkels Fähigkeit, die Politik auf ihren machtpolitischen Kern zu reduzieren, hat bei Beobachtern Bewunderung und Abscheu erregt – oft auch beides zugleich. »Die Physikerin Angela Merkel halte ich für die oberste Spieltheoretikerin im Lande, in dieser Disziplin braucht sie keine Beratung mehr«, erläuterte der Publizist Frank Schirrmacher, der in seinem jüngsten Bestseller die Spieltheorie zur beherrschenden Denkfigur der Gegenwart erklärte. »Angela Merkel regiert in dieser kommunikationsgedopten Moderne durch Schweigen, durch Mimik und angeblich durch Kleidungscodes.« Ähnlich äußerte sich der Politologe Joachim Raschke. Merkel verkörpere einen »neuen Typus von Politikern, die keine Ziele haben, aber trotzdem strategisch denken«. Ähnlich wie im Krieg bestehe die einzige Absicht nun darin, den Gegner in Schach zu halten.
Schirrmacher und Raschke mögen den Politikstil der Kanzlerin zutreffend analysieren. Die Frage ist nur, ob das in früheren Zeiten anders war – und ob die rigorose Unterordnung des eigenen Strebens unter die großen Strömungen der Epoche nicht das wahre Merkmal historischer Größe ist. Schon der Reichsgründer Otto von Bismarck hatte erkannt, dass er sich dem Zug der Zeit nicht entgegenstemmen konnte. Also setzte er sich selbst an die Spitze der Bewegung. Den Nationalstaat, den er nicht verhindernkonnte, gründete er lieber selbst, und für den Reichstag setzte der Gegner aller demokratischen Bestrebungen das allgemeine Wahlrecht durch. Dem politischen Liberalismus, der nur in kleinen bürgerlichen Eliten Anhang fand, brach er damit das Genick.
Anders als Bismarck, der in Freund-Feind-Schemata dachte, und Schröder, der über »die andere Seite« sprach wie über einen zu vernichtenden Gegner, hat sich Merkel zu einer Meisterin des politischen Transformismus entwickelt. Der Begriff stammt aus dem Italien der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Damals brach der liberale Ministerpräsident Giovanni Giolitti verhärtete innenpolitische Fronten auf, modernisierte das Land – und suchte sich seine Bündnispartner, wo er sie gerade fand. Im eigenen bürgerlichen Lager war die Entrüstung über die vermeintliche Prinzipienlosigkeit des Premiers ebenso groß wie in Teilen der Sozialistischen Partei, der er sogar Ministerposten anbot. In den Augen der Linientreuen war das der Gipfelpunkt politischer Korruption. Trotz aller Anfeindungen blieb Giolitti ein Jahrzehnt lang der unumschränkte Herrscher des politischen Geschehens. Alles in allem war es für Italien ein glückliches Jahrzehnt, in diese Zeit fiel nicht zuletzt die erste industrielle Aufholjagd des zuvor rein agrarisch geprägten Landes.
Manche Historiker sehen in Giolitti jedoch den Urheber einer politischen Krankheit, die Italien seither nicht mehr verlassen hat – eines politischen Opportunismus, der Überzeugungen stets dem Diktat des taktischen Nutzens unterordnet, einer steten Bereitschaft zu oberflächlicher Veränderung, um die darunterliegenden Machtstrukturenzu bewahren. Vor allem aber sehen sie im Transformismus des erfolgreichen Ministerpräsidenten die Ursache für die Schwäche eines Parteiensystems, das wenig später unter dem Ansturm des Faschismus kollabierte. Um Mussolini den Weg zu ebnen, war in Italien freilich noch ein Weltkrieg nötig.
Der Transformismus à la Merkel ist aus einer Schwäche des Parteiensystems hervorgegangen, die er weiter verschärft. Wenn fast alle Parteien die CDU-Vorsitzende im Zweifelsfall zur Kanzlerin wählen würden – dann gibt es kaum noch einen vernünftigen Grund, warum man dazu ausgerechnet die Christdemokraten wählen sollte. Deshalb bleibt Merkels Anschlussfähigkeit an unterschiedliche Koalitionspartner ihr größtes
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