Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Zunächst schien das Konzeptaufzugehen, zumal Deutschland durch die enormen Lasten der Wiedervereinigung auch seine Rolle als ökonomisches Musterland einbüßte. Der Glaube an das Erfolgsmodell Bundesrepublik schwand. Die Arbeitslosigkeit wuchs, die Staatsverschuldung stieg an, die Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme nahm ab. Internationale Vergleichstests widerlegten die Annahme, dass das deutsche Bildungssystem effizient sei und den sozialen Aufstieg fördere. Die Nachrichten vom Abstieg nahmen die Deutschen mit einer Gelassenheit hin, die auch viel Sympathisches hatte.
In der Bundesrepublik flossen die öffentlichen Gelder in den Neunzigerjahren vor allem in den Osten, während in Westdeutschland die Infrastruktur verrottete. Zur gleichen Zeit legten sich Frankreich, Spanien und selbst Italien ein ganzes Netz von Hochgeschwindigkeitsbahnen zu. Als Vorbild für Deutschland galten nun die Sozialreformen in den Niederlanden, die Kitas in Frankreich, die Ideen von »New Labour« im Vereinigten Königreich. Dass Deutschland der kranke Mann Europas sei, war im In- und Ausland Konsens. Man darf nicht vergessen, unter welchen Umständen Angela Merkel 2005 an die Regierung kam. Um eine vorzeitige Parlamentsauflösung zu rechtfertigen, schilderte der damalige Bundespräsident Horst Köhler mit weit aufgerissenen Augen den katastrophalen Zustand des Landes. Seine Begründung gipfelte, mit Blick auf den demographischen Wandel, in dem Satz: »Wir werden immer älter.«
Am Ende erwies es sich als Glücksfall, dass Deutschland innerhalb seiner eigenen Grenzen beide Teile des einst geteilten Kontinents vereinte und deshalb den kalten Wind der Globalisierung stärker verspürte. Das zwang dasLand früh zu scharfen Reformen, wie sie anderen europäischen Staaten erst jetzt in der Euro-Krise bevorstehen. Zudem bewährte sich das komplexe politische und ökonomische System, das vorschnelle Entscheidungen und Umschwünge verhindert. In der Zeit, in der England seine Industrie abschaffte und Spanien Unsummen für teils unsinnige Infrastrukturprojekte ausgab, wurde in Deutschland mit dem Betriebsrat verhandelt, vor dem Verwaltungsgericht prozessiert oder im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat um einen Kompromiss gerungen.
Zudem hatte die Einführung der europäischen Gemeinschaftswährung, von Mitterrand als Instrument der Einbindung Deutschlands ersonnen, den gegenteiligen Effekt. Es gibt in der Geschichte viele Beispiele, dass einheitliche Währungsräume die wirtschaftlich potenteren Regionen begünstigen – von der Einigung Italiens im 19. Jahrhundert, die den wirtschaftlichen Absturz des Südens nach sich zog, bis zur deutsch-deutschen Währungsunion des Jahres 1990, die der ostdeutschen Industrie den Garaus machte. In der Euro-Krise wurde der ökonomische Erfolg der Bundesrepublik vollends zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Seit Deutschland trotz seiner hohen Gesamtverschuldung zur angeblich sicheren Fluchtburg für anlagewilliges Kapital geworden ist, zahlt der Finanzminister praktisch keine Zinsen mehr.
Die Deutschen nahmen ihre neue Stärke mit ähnlicher Gleichgültigkeit zur Kenntnis wie zuvor ihre ungewohnte Schwäche. Teilweise registrierten sie die Gunst ihrer Lebensumstände nicht einmal: Als der Rest Europas schontief in der Krise steckte, machten sich die Deutschen laut Meinungsumfragen noch immer sehr viel größere Sorgen um ihren Arbeitsplatz als die meisten anderen Europäer. Hingegen scheint ihnen nicht bewusst zu sein, dass ihnen die neue Lage auch eine neue Verantwortung in Europa und der Welt aufbürdet.
Merkel vermittelt den Deutschen die neue Wirklichkeit, wie es ihre Art ist, nur in homöopathischen Dosen. »Sie hat diese Verantwortung nicht gewollt, aber sie nimmt sie auf sich«, schreibt der französische Merkel-Biograph Jean-Paul Picaper. Das stimmt in Bezug auf die Euro-Krise, aber die deutsche Außenpolitik als Ganzes hat Merkel nach ihrem Amtsantritt durchaus absichtsvoll neu ausgerichtet. Nach dem Ende der rot-grünen Regierungszeit 2005 urteilte der Historiker Hans-Ulrich Wehler, der scheidende Bundeskanzler Gerhard Schröder habe mit seinen Agenda-Reformen in der Innenpolitik fast alles richtig, mit seinen einsamen Entscheidungen in der Außenpolitik jedoch vieles falsch gemacht. Die Bewertung stand damals in krassem Gegensatz zu einer breiten Stimmung im Land, die Schröder für sein Nein zum Irak-Krieg feierte und die Agenda für schändlichen »Sozialabbau«
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