Die Deutsche - Angela Merkel und wir
hielt.
Seine Nachfolgerin lag mit ihrer Analyse zunächst eher bei Wehler. In der Außenpolitik sah sie sich als die Frau, die die von Schröder hinterlassenen Scherben zusammenkehren musste. Sie hofierte den amerikanischen Präsidenten George W. Bush und ging auf Distanz zu Schröders Freunden in Russland und China, was in der großen Koalition gelegentlich zu Konflikten mit ihrem Außenminister Frank-Walter Steinmeier führte. Aus Merkels Sicht galtdie Scherbentheorie auch für die Europapolitik. Hier hinterließen ihr Schröder und Fischer die gescheiterte Vision eines europäischen Verfassungsvertrags, den sie nun durch den bescheideneren Lissabon-Vertrag ersetzen musste. Und von Kohl erbte sie die Konstruktionsmängel der Gemeinschaftswährung.
Seit sich die weltweite Finanzkrise in eine Krise der europäischen Gemeinschaftswährung verwandelt hat, funktioniert das alte Muster nicht mehr. »Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit«: Mit diesem Satz brachte der polnische Außenminister Radosław Sikorski im November 2011 zum Ausdruck, was viele Europäer dachten. Dass ausgerechnet ein Pole diesen Gedanken so pointiert vortrug, verlieh dem Ruf nach einer deutschen Führungsrolle zusätzliches Gewicht. Zu jenem Zeitpunkt war Merkel von den klaren Bekenntnissen zum Zusammenhalt der Währungsunion, die sie im Folgejahr vortragen sollte, noch weit entfernt. Es war klar, dass die Zukunft der Europäischen Union maßgeblich vom Agieren Deutschlands abhängen würde. Aber die Deutschen hatten sich dieser Einsicht noch nicht gestellt. Merkels Lavieren bildete diese Gemütslage nach außen hin ab.
Der Konstanzer Staatsrechtler Christoph Schönberger hat dieses Phänomen in die Formel eines »Hegemon wider Willen« gegossen. Dafür erntete er teils wütenden Widerspruch, der von einer mangelhaften Durchdringung außenpolitischer Probleme in der deutschen Öffentlichkeit zeugt oder, mit den Worten des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler, von einem »politisch unerzogenen Volk«. Das Fehlen einer europäischen Zentralgewalt drängtden größten Mitgliedstaat in eine hegemoniale Rolle. Innerhalb der Bundesrepublik käme niemand auf die Idee, die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen für die deutsche Politik im Ganzen verantwortlich zu machen – weil es dafür eben die Bundeskanzlerin gibt. Deshalb plädierte Merkels früherer Regierungssprecher Ulrich Wilhelm, jetzt Intendant des Bayerischen Rundfunks, im Sommer 2012 für eine Stärkung Brüssels: Nur so könnten sich die Deutschen der undankbaren Rolle eines europäischen Zucht- und Zahlmeisters entziehen, so Wilhelms These, die als Kritik an seiner zögerlichen Ex-Chefin zu verstehen war.
Die Europäische Union der Gegenwart hat in ihrer Konstruktion eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen deutschen Nationalstaat von 1871, der ebenfalls nur ganz allmählich zusammenwuchs. Ein gemeinsames Zivilrecht trat erst nach drei Jahrzehnten in Kraft, die Zusammenlegung der Eisenbahnen ließ sich sogar erst nach der Abdankung der Fürsten am Ende des Ersten Weltkriegs verwirklichen. Vor allem aber ging das übermächtige Preußen mit seiner hegemonialen Stellung sehr zurückhaltend um. Es begnügte sich mit einer Minderheit der Stimmen im Bundesrat, es machte dem widerspenstigen Bayern mit Finanzhilfen den Beitritt zu dem neuen politische Gebilde schmackhaft, es glich den notorisch defizitären Haushalt klammer Kleinstaaten wie Waldeck-Pyrmont aus der eigenen Schatulle aus. Faktische Hegemonie setzt, wie der Jurist Schönberger schreibt, »bewusste Selbstbändigung« voraus.
Ihre halbhegemoniale Stellung bürdet den Deutschenin Europa eine große Verantwortung auf. Der Euro hat sie nur verstärkt, angelegt war sie schon durch den Fall des Eisernen Vorgangs, die Wiedervereinigung und die Öffnung zum östlichen Mitteleuropa. Durch einen bloßen Austritt aus der Gemeinschaftswährung wäre sie deshalb auch nicht aus der Welt zu schaffen, selbst wenn ein deutscher Spitzenpolitiker das allen Ernstes wollte. Andere europäische Länder sind nur für ihr aktives Handeln verantwortlich, Nichtstun würde ihnen niemand zum Vorwurf machen. Für Deutschland ist das keine Option.
Dass in Deutschland der Eindruck entstand, Merkel sei in den europäischen Krisenländern nicht beliebt, kommt ihr als Wahlkämpferin zupass. Wenn Griechen oder Portugiesen gegen die Kanzlerin demonstrieren, gilt das zu Hause als Beleg, wie hartleibig sie deutsches
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