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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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machtpolitisches Kapital. Funktionieren kann das allerdings nur, solange sich die anderen nicht gegen sie verbünden.

KAPITEL 10:
HALBHEGEMON
    Politiker aus sechzig Staaten haben sich unter der Sonne des chilenischen Hochsommers fürs Gruppenfoto unter freiem Himmel aufgestellt, neben dem Kongresszentrum am nördlichen Rand der Hauptstadt Santiago. Alle tragen Schwarz oder Dunkelblau, auch die paar Frauen, die inzwischen dieser Runde angehören. Nur eine steht mit pfirsichfarbener Jacke und heller Hose in der ersten Reihe, ein Stückchen links der Mitte, eingerahmt von den Präsidentinnen der beiden größten Länder Südamerikas, Brasilien und Argentinien. Es sieht aus, als sei sie die wichtigste Person auf diesem Gipfel, und natürlich ist sie es auch: Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin.
    Nach den Regeln des Protokolls gehört sie gar nicht dort vorne hin, sie ist ja kein Staatsoberhaupt. Später am Konferenztisch wird ihre argentinische Sitznachbarin Cristina Kirchner sogar fragen, was das überhaupt ist, eine Kanzlerin, und was sie von einem Ministerpräsidenten unterscheidet. Aber die chilenischen Gastgeber haben dafür gesorgt, dass die deutsche Bundeskanzlerin dort vorne steht. Sie können kaum an sich halten vor Stolz, dass die wichtigsteFrau Europas das Land besucht und die Regierungspolitik in den höchsten Tönen lobt, zwei Jahrzehnte, nachdem der nicht ganz so wichtige Helmut Kohl als bislang letzter deutscher Regierungschef in Chile war. Die Zeitungen des Landes sind voll von Merkel-Fotos, im regierungsnahen Mercurio ist sie am nächsten Tag elfmal abgebildet, nicht ganz so oft wie einst im Neuen Deutschland der Genosse Erich Honecker, dessen Witwe jetzt in Santiago lebt. Zur Begrüßung hatte der chilenische Präsident die deutsche Kanzlerin »un gran leader del mundo« genannt, was das Bundespresseamt nicht mit »Führerin« übersetzt, sondern mit »Führungsperson«, »eine große Führungsperson der Welt«.
    Der französische Präsident François Hollande hat nur seinen Premier geschickt, der britische Premier David Cameron bloß einen Minister. Vielleicht wollten die beiden nicht um die halbe Welt fliegen, um dann nur als zweitwichtigste Europäer behandelt zu werden. Womöglich hatten sie andere Verpflichtungen, sie sind daheim ja nicht so unangefochten wie zuletzt die deutsche Kanzlerin, und wahrscheinlich wussten sie auch, dass ihr Fernbleiben nicht groß auffallen würde. Bei Merkel ist das anders. Ein Gipfel zwischen den Staaten Lateinamerikas und der Europäischen Union ohne die Frau, die auf dem alten Kontinent die Geschicke lenkt, wäre ein Affront gegenüber dem Gastgeber. Man hätte dann auf den ganzen Aufwand verzichten können. Selbst den Ministerpräsidenten aus Madrid, der für die spanischsprachige Welt noch immer eine wichtige Rolle spielt, hat Merkel auf die Innenseiten der chilenischen Zeitungen verdrängt.
    Alle wollen mit ihr reden. Für die vier Großen Lateinamerikas hat sie jeweils eine halbe Stunde reserviert, für die Präsidenten Mexikos und Kolumbiens und für die Kolleginnen aus Brasilien und Argentinien. Andere Regierungschefs, vor allem aus Europa, trifft sie in kurzen Intervallen zu jeweils zehn Minuten, ihre Berater haben die Termine vorher gemacht. Auch den Litauer wird sie treffen. »Dombrovskis«, sagt einer ihrer Mitarbeiter, doch sie entgegnet fachkundig: »Nee, Dombrovskis is’ lettisch.« Fast alle der versammelten Politiker hat sie schon einmal getroffen. Mit mehr als sieben Jahren Amtszeit ist sie eine der Erfahrensten in dieser Runde. Um mit den wichtigen Kollegen aus Europa den Verhandlungsspielraum in Brüsseler Streitigkeiten auszuloten, reicht ihr oft ein kurzes Gespräch von fünf Minuten zwischen Tür und Angel.
    »In Wahrheit ist Angela Merkel die Mitte der Macht in Europa«, schrieb der Journalist Nils Minkmar schon nach dem chaotischen G-20-Gipfel in Cannes Ende 2011. Deutschland hat längst die Führungsrolle in der Europäischen Union, obwohl es sie gar nicht wollte. Die seligen Zeiten sind vorbei, als die alte Bundesrepublik zwar das wirtschaftlich stärkste Land in Westeuropa war, im Gegenzug aber keinerlei Verantwortung übernehmen musste. In europapolitischen Fragen konnten sich die Bonner Politiker damals hinter Frankreich verstecken, in militärstrategischen Belangen hinter den Vereinigten Staaten.
    Von innen wie von außen hat es nach 1990 an Versuchen nicht gefehlt, den Einfluss des größer gewordenen Deutschland zu begrenzen.

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