Die Deutsche - Angela Merkel und wir
etwas zu rosig zeichneten, war weniger einer Vorliebe für den Sozialismus geschuldet als dem eigenen schlechten Gewissen: Man brauchte einen Vorwand, um die Brüder und Schwestern im Osten auf dem eigenen, postnationalen Weg nach Westen so schnell wie möglich vergessen zu können.
Auch die Physikerin Angela Merkel träumte in den Achtzigerjahren vom Westen, aber sie dachte dabei nicht an Frankreich oder Italien. Ihr Blick war auf die Bundesrepublik gerichtet, die sie 1986 zum ersten Mal besuchte. Das Land war ihr aus dem Westfernsehen vertraut, aber der erste Besuch war doch eine aufregende, fremde Erfahrung. Anlass der Reise war die Hochzeit einer Cousine in Hamburg, anschließend besuchte Merkel auf eigene Faust Kollegen in Karlsruhe und Konstanz. Am Bodensee überlegte sie allen Ernstes, ob es eine allein reisende Frau im Reich des finsteren Kapitalismus wagen könne, sich ein Hotelzimmer zu nehmen – und dafür das rare Westgeld zu verschwenden. Sie tat es, und sie überlebte es. Nach dieser Reise sei ihr klar gewesen, dass es zum westlichen Modell keine Alternative gebe, erzählte sie später.
Merkel träumte auch von einer Reise in die VereinigtenStaaten. Wegen der Reisebestimmungen der DDR war damit allerdings erst im Rentenalter zu rechnen, vorerst musste sie sich mit englischsprachiger Lektüre begnügen, die sie frühmorgens am S-Bahnhof Schönhauser Allee erstand: »Wenn ich glücklich war, kriegte ich dort eine von drei angelieferten Ausgaben der Zeitung der kommunistischen Partei Großbritanniens, nämlich den Morning Star.« Mit dessen Hilfe brachte sie sich selbst Englisch bei. Irgendwann wurde das Blatt eingestellt, im Gedächtnis behielt die junge Physikerin die Hymne der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die dort abgedruckt war: »If I had a hammer.«
Eine der ersten Auslandsreisen nach dem Fall der Mauer führte Merkel ins kalifornische San Diego, wo ihr Lebensgefährte Joachim Sauer 1990/91 bei einer Firma arbeitete, die Software für die chemische Industrie entwickelte. »Gleich 1990 sind mein Mann und ich das erste Mal in unserem Leben nach Amerika geflogen, nach Kalifornien«, sagte Merkel 2009 in ihrer Rede vor dem amerikanischen Kongress. »Niemals werden wir den ersten Blick auf den Pazifischen Ozean vergessen.« Eine große Reise durch die Vereinigten Staaten wird sie wohl tatsächlich erst im Ruhestand antreten können. Wie damals das Grenzregime der DDR, so schränkt heute ihr Amt die Reisefreiheit ein: Leider könne sie sich als Bundeskanzlerin nicht so lange und so weit von Mitteleuropa entfernen, noch dazu in Zeitzonen, die eine enge Kommunikation erschwerten, stellt sie gelegentlich bedauernd fest. Das Argument ist glaubwürdig: Selbst auf dienstlichen Auslandsreisen achtet Merkel darauf, dass sie pünktlich zu den Sitzungen der Parteigremienam Montag und der Bundestagsfraktion am Dienstag wieder in Berlin ist. Dass sie sich ihrer Sache nie zu sicher ist und stets misstrauisch bleibt, zählt gewiss zu den Erfolgsrezepten der Politikerin Angela Merkel.
Westeuropa gehörte nicht zu Merkels frühen emotionalen Prägungen. Sie hat sich die Europapolitik erarbeitet, Stück für Stück. Als Umweltministerin lernte sie die Brüsseler Verhandlungen gründlich kennen, das Fachgebiet war schon damals stark europäisiert. Als CDU-Vorsitzende verhinderte sie über die Europäische Volkspartei die Wahl des linksliberalen belgischen Integrationsbefürworters Guy Verhofstadt zum Präsidenten der EU-Kommission. Stattdessen hievte sie den konservativen Portugiesen José Manuel Barroso in das Amt, mit dessen Wirken sie in der Euro-Krise allerdings nur bedingt zufrieden war. Wenige Wochen nach ihrer Vereidigung brachte sie den Streit über den EU-Haushalt zu einer einvernehmlichen Lösung, damals noch in der Tradition Kohlscher Europapolitik mit einem finanziellen Beitrag Deutschlands.
Damit hatte sie sich auf dem Brüsseler Parkett etabliert und ist dort heute mit weiten Abstand die am meisten respektierte Politikerin – nicht nur wegen ihrer Macht, sondern vor allem auch wegen ihrer Detailkenntnis. Erlebt man sie in Hintergrundgesprächen zu europäischen Themen, ist sie mindestens so gut informiert wie ihre Beamten. Das kann für Journalisten, die sich gern große Perspektiven wünschen, mitunter enttäuschend sein.
Im Januar 2013 empfing Merkel die Spitzen des französischen Staates in Berlin, es galt, den fünfzigsten Geburtstag der deutsch-französischen Freundschaft zu begehen.Was
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