Die deutsche Seele
versprochen, sei »gesund, ökologisch und lecker«.
Was war nur aus der guten alten Jugendherberge geworden? Gab es sie etwa nicht mehr, die kargen Säle, voll gestellt mit durchgelegenen Stockbetten, die Duschen, die nie richtig warm werden wollten, die mürrischen Herbergsväter und noch mürrischeren Herbergsmütter, die großen Metallkannen, die roten Tee oder den gefürchteten dickhäutig-blassen Kakao enthielten, die vertrockneten Graubrotschreiben am Abend, der Aufschnitt, der sich an den Rändern wölbte, weshalb Schmelzkäse-Ecken zur Delikatesse aufstiegen, die Spüldienste, die auch höhere Töchter und Söhne zum einzigen Mal im Leben mit den Abgründen einer Industrieküche vertraut machten? Ob auf CO2-neutralen »Prima-Klima-Klassenfahrten« immer noch Flaschendrehen gespielt wurde?
Rauchten auch Teenager, die »gut drauf, aber natürlich« waren, nachts ihre ersten heimlichen Zigaretten? War die Jugendherberge überhaupt noch jene eigentümlich anarchische Kaserne, in der es strenger zuging als daheim und gleichzeitig über alle Stränge geschlagen werden konnte?
Ich suchte »meine« alten Jugendherbergen im Netz und war beruhigt, dass die in Zwingenberg immer noch so spartanisch-teutonisch aussah, wie ich sie in Erinnerung hatte, wenngleich auch dort die Erlebnis-Pädagogik Einzug gehalten hatte. (»Qualifizierte Angebote zur Kultivierung der Erlebnisfähigkeit von Kindern und Jugendlichen.«) Die vier Flachdachbunker von Oberreifenberg lagen immer noch so krude in der Landschaft wie anno 1984. Rührung überkam mich, als ich auf die Bilder von nackten Backsteinwänden und hölzernen Stockbetten stieß, versehen mit dem Kommentar, die Jugendherberge Oberreifenberg verfüge über »gemütliche Zimmer mit insgesamt 222 Betten«.
Am nächsten Morgen ging ich in die Bibliothek. Ich wollte mehr erfahren über die Geschichte der Jugendherberge. Vielleicht waren die heutigen »Graslöwen« den Wurzeln der Bewegung ja näher, als ich dachte.
Angefangen hat alles mit einem wanderfrohen Lehrer: Richard Schirrmann. Bereits in seiner ostpreußischen Heimat verlegte er den Unterricht immer häufiger ins Freie, überzeugt, dass die polnisch-masurischen Schüler besser Deutsch lernten, wenn er mit ihnen durch die Natur zog, wo die fremden Wörter ein Gesicht bekamen. 1901 ging der 27-Jährige nach Westfalen, fortan war es die bleiche Industriejugend Gelsenkirchens, aufgewachsen im Schatten der Schlote, die er auf Wanderungen ins Münsterland und in die Ruhrberge mitnahm. Bisweilen barfuß soll Schirrmann seinen Schülern vorausgewandert sein, mit Schillerkragen und Rucksack. Der Schulbehörde war der »wanderdulle« Lehrer nicht geheuer, sie versetzte ihn ins sauerländische Altena - an jenen Ort, an dem die heute noch existierende erste Jugendherberge der Welt entstehen sollte. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg. Auch die neue Anstalt wollte von Schirrmanns Konzept der »Frischluftschule« nicht viel wissen, ein abermaliger Wechsel war die Folge.
Nun war Schirrmann um 1900 herum nicht der Einzige, der die deutsche Jugend aus dem »Stank und Staub der Industrie- und Großstadt« herausholen wollte. Jugendwandern als Allheilmittel gegen den Urbanen »Pesthauch des Menschengrabes« lag überall in der Luft. In Berlin-Steglitz nahm kurz vor der Jahrhundertwende die Wandervogel-Bewegung ihren Anfang, 1907 entstanden die ersten Schüler- und Studentenherbergen. Zumeist handelte es sich um gewöhnliche Gasthäuser, die bereit waren, der wandernden Jugend verbilligte Zimmer zu vermieten. Doch so wie die Wandervögel in erster Linie bürgerlichen Elternhäusern entflattert waren, blieb auch der Zugang zu den Schüler- und Studentenherbergen dem einfachen Volksschüler verwehrt. Gerade bei diesen aber vermutete Schirrmann die größten seelischen und körperlichen Schäden, verursacht durch die »gefährliche Abwendung von der Natur«. Voll Abscheu beschrieb er einen typischen wilhelminischen Schulwandertag, wie er sich vor dem Ersten Weltkrieg langsam zu etablieren begann: »Da geht’s im Sonntagsstaat mit viel Geld in der Tasche ein Stückchen Wegs zur nächsten Waldschenke. Scheel sehen die zurückgebliebenen Kinder ärmerer Leute aus Fenstern und Zaunwinkeln hinterdrein. Oder man macht eine kostspielige längere Eisenbahnfahrt bis an den Fuß eines vielgenannten Berges, bis an ein Denkmal, das man gesehen haben muss, und kehrt im nahen Gasthof ein, wo eine fein gedeckte Tafel mit viel Kaffee und Kuchen
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