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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Dorfrand, blickte über den Lattenzaun. Sah den Zug am Wald vorbeifahren, sah ihn hinter dem Horizont verschwinden, dachte mir die Stadt aus, in der er ankommen würde. Die Ankunft und die Ankunftszeit. Alles geschah ohne mich, ich war noch ein Kind.
    Ich sah mich im Hof stehen, sah mich auf dem Klotz hocken, dem groben Klotz, auf dem das Holz gehackt wurde für den Küchenherd. Es war Frühjahr, es war Sommer, es war Herbst und es war Winter. Es waren die fünfziger Jahre, und die Frauen liefen durch den Hof. Zwei Frauen. Meine Mutter, meine Großmutter.
    Ich ging ins Haus und hörte sie im Hof singen. Sie sangen wie in der Jugend meiner Mutter, und sie sangen wie in der Jugend meiner Großmutter. Die Jugend meiner Großmutter fiel in den Ersten Weltkrieg, die Jugend meiner Mutter in den Zweiten.
    Sie sangen zweistimmig. »Mädle, ruck ruck ruck an meine grüne Seite.« Oder: »Du, du liegst mir im Herzen, du, du liegst mir im Sinn.« Sie sangen: »Du, du machst mir viel Schmerzen, weißt nicht, wie gut ich dir bin.«
    Ich bekam ein Akkordeon. Die meisten deutschen Kinder hatten ein Akkordeon. Das Akkordeon galt als ein deutsches Instrument. Die rumänischen Kinder schauten uns manchmal beim Akkordeonspiel zu, und das war auch schon alles. Unsere deutschen Akkordeons hießen »Hohner« und »Weltmeister«. Die meisten Kinder im Dorf hatten ein Weltmeister, ich hatte ein Hohner.
    Ich spielte: »Wenn alle Brünnlein fließen, so muss man trinken. Wenn ich mein Schatz nicht rufen darf, tu ich ihm winken.« Ich spielte aber auch Neues aus dem Radio. Ich spielte die neuesten Hits aus Deutschland. Nach Noten, die einer der Musiklehrer aus dem Dorf aufgeschrieben hatte. Wir setzten die Texte aus dem Radio dazu. Wir hörten den Österreichischen und den Bayerischen Rundfunk, den Hessischen und den Saarländischen und - nicht zu vergessen - Radio Luxemburg. Das Ganze, jeweils nach Wetterlage. Es waren Mittelwellensender, und auf der Mittelwelle war nicht nur jede Musik zu hören, sondern auch jedes Gewitter.
    Unsere Heimat war das Banat, unsere Muttersprache Deutsch. Wir waren Deutsche, und wir legten Wert darauf, es zu sein. Man konnte jeden Augenblick zum Rumänen werden, ohne es zu erkennen, wie wir befürchteten.
    In der Schule lernten wir, dass es außer der Heimat Banat das größere Vaterland gab. Das Vaterland, das der Staat war. Der rumänische Staat. Wir aber hatten etwas, worüber die Rumänen nicht verfügen konnten, wir hatten außer dem Vaterland die Muttersprache und damit das Mutterland. Wir kannten es nicht aus eigener Anschauung, aber es war uns näher, als zu erwarten gewesen wäre. Obwohl es, als ich ein Kind war, unerreichbar blieb. Im Stalinismus waren die Grenzen zu. Wir hatten keine Pässe, aber der deutsche Radiofunk sprach uns Trost zu. Mit den Einzelheiten aus dem Radio wurde das Mutterland zu Deutschland.
    Im Dorf war alles geordnet und sortiert, auch mit den Menschen war es nicht anders. Jeder hatte sein Dorf. Die Deutschen hatten ihr Dorf, und die Rumänen hatten ihr Dorf. In dem einen Dorf sprach man Deutsch, in dem anderen Dorf sprach man Rumänisch.
    Rumänisch war die Staatssprache, Deutsch die Muttersprache. Wenn ich deutsch sprach, dachte ich deutsch, und wenn ich rumänisch zu sprechen hatte, dachte ich ebenfalls deutsch.
    Eines Tages fand ich in einem Dachboden-Buch im Dorf das Notenblatt des Deutschlandliedes. Ich nahm es mit nach Hause, und zu Hause holte ich das Akkordeon hervor. Ich spielte zuerst die Noten ab. Dann sang ich den Text dazu. Ich sang die erste Strophe, wusste aber nicht, dass es die erste Strophe ist, und wusste ebenso wenig, was es mit der ersten Strophe auf sich hat. Dass man die erste Strophe nicht zu singen hat. Ich hätte mir gar nicht vorstellen können, dass ein Lied mit der dritten Strophe beginnt oder dass man aus einem Lied nur die dritte Strophe singt, das hätte ich damals überhaupt nicht verstanden.
    Ich verstehe es auch heute nicht ganz, aber heute weiß ich, warum es so ist. Ich weiß, dass die Vergangenheit nicht Geschichte werden kann, weil die Nazis uns das deutsche Wort im Munde umgedreht haben. Sie machten alle ersten Strophen zu ihrer ersten Strophe. Und wenn es ihnen letzten Endes auch nichts nützte, stürzte es uns doch in die Sprachlosigkeit. Dass wir um den Unterschied zwischen Hoffmann von Fallerslebens Deutschlandbild und dem des Anstreichers wissen, sollte eigentlich genügen. Was aber genügt schon in diesem zögerlichen Land, in das ich

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