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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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wartet und ein befrackter Kellner Knaben und Mädchen wie Herren und Damen bedient. Dann werden ein paar Spielchen gemacht, und das Lehrerkollegium besinnt sich auf sich selbst, während die Jugend sich hinter Hecken und Zäunen verkrümelt, Wiese und Kornfeld zertritt, die Köpfe sich vielleicht blutig schlägt oder den Automaten leerzieht.« Gegen diese »Auswüchse« empfahl Schirrmann eine Art von Schulausflug, der außer robusten Sohlen unter den Füßen und einem leichten Bündel auf dem Rücken keinen weiteren Aufwand erforderte: »Darum nicht wie selten Zuckerbrot, sondern wie grob hausbacken Brot soll man das Wandern genießen. Zu starken, gesunden Waldläufern und heimatkundigen Pfadfindern möchte ich deutsche Knaben und Mädchen erziehen!«
    Schirrmann schreckte nicht davor zurück, mit seinen Schülern bis zu vierzig, fünfzig Kilometer täglich zurückzulegen - und rühmte sich, dank der Luft-, Licht- und Fußbäder während der Mittagsrast nie ein »fußkrankes Kind« erlebt zu haben. Wurden mehrtägige Wanderungen in Angriff genommen, übernachtete man in Scheunen und auf Heuböden.
    Im Sommer 1909 geriet Schirrmann mit seinen Schülern im Bröltal in ein heftiges Unwetter. Schnell musste eine außerplanmäßige Herberge gefunden werden - ein Dorfschullehrer erklärte sich bereit, sein Klassenzimmer als Notunterkunft zur Verfügung zu stellen: Der Jugendherbergsgedanke war geboren. Zurück in Altena, arbeitete Schirrmann fieberhaft an dem Plan, möglichst viele deutsche Schulen dafür zu gewinnen, im Sommer ihre Klassenzimmer leer zu räumen und statt der Bänke und Tische Bettgestelle mit Strohsäcken aufzustellen. An der Nette-Schule, an der Schirrmann mittlerweile unterrichtete, ging er mit forschem Beispiel voran und funktionierte sein Klassenzimmer alle Ferien wieder zur ersten »Volksschülerherberge« um. Gleichzeitig machte er sich auf die Suche nach Unterstützern. Den aktivsten fand er in dem gleichfalls »wanderdullen« Fabrikanten Wilhelm Münker, einem leidenschaftlichen Umweltschützer, der in seiner Freizeit zivilisationskritische Aufsätze wie Die Eisenbahn auf dem Holzwege verfasste und sich zum organisatorischen Kopf der Bewegung machte. 1912 konnte die Mutter aller Jugendherbergen in der mittelalterlichen Burg Altena ihre Tore öffnen. Der stolze Herbergsvater hieß: Richard Schirrmann.
    Der Erste Weltkrieg, zu dem auch Schirrmann eingezogen wurde, unterbrach den Aufschwung, doch bereits 1920 existierten in Deutschland mehr als tausend Jugendherbergen, deren Zahl sich in den folgenden dreizehn Jahren noch einmal verdoppelte.
    Auch im Ausland begann man, sich für den Jugendherbergsgedanken zu interessieren. 1932 entstand der Internationale Jugendherbergsverband - sein Präsident: Richard Schirrmann. Die Konferenzsprache bei diesem ersten Treffen war Deutsch - obwohl Vertreter aus allen mitteleuropäischen Ländern samt Großbritannien anwesend waren. 1935 durfte Schirrmann in seiner Eigenschaft als Verbandspräsident in die USA reisen, wo zwei Jahre zuvor in New England die ersten Youth Hostels im Sinne des Erfinders gegründet worden waren. Noch konnte dieser enthusiastisch ausrufen: »Pädagogen aller Völker und Rassen, vereinigt euch mit der Jugend, um durch Wandern und Herbergen neue Menschen zu formen, die den verderblichen Materialismus bändigen und den wahren Frieden sichern!«
    Im eigenen Land sah die Lage mittlerweile düster aus. Die Hitler-Jugend des Baidur von Schirach hatte sich bereits im April 1933 des Jugendherbergswerkes bemächtigt - angeblich sei es »marxistisch« unterwandert. Anfangs glaubten Schirrmann und Münker noch, sich mit den braunen Marschierhorden irgendwie arrangieren zu können. Heimlich spotteten sie über den Reichsjugendführer, der »nie einen Rucksack auf dem Rücken«, geschweige denn jemals in einer Jugendherberge übernachtet habe. Schirachs Günstling Johannes Rodatz, den dieser zum »Führer des Reichsverbandes für deutsche Jugendherbergen« ernannte, titulierten sie als PS-verliebten »Automobilhäuptling«. Über den »Jungsturm« der HJ konnten die beiden alten Wandersmänner nur den Kopf schütteln. Fremd war ihnen der Patriotismus, der jetzt verkündete: »Das durch die Natur >latschen< kann nicht viel dazu beitragen, einen Wiederaufstieg unseres Volkes in Wirtschaft und Kultur zu fördern. Heute heißt die Losung: >Von der Wanderhorde zur Kolonne!<« In Briefen aus den dreißiger Jahren klagten sich die beiden ihr Leid, dass ihnen

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