Die deutsche Seele
sich die Baronin in ihrem missionarischen Eifer nicht bremsen. Sie reiste nach London, Paris, Zürich, Genf, Antwerpen und Amsterdam und sorgte so dafür, dass der Kindergarten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem deutschen Exportschlager wurde. Bis heute existiert der Begriff als deutsches Lehnwort im Englischen, zahlreiche andere Sprachen haben ihn sich angeeignet.
Überhaupt waren es Frauen, die die Nachfolge Fröbels antraten: Eine Großnichte der Baronin Marenholtz-Bülow gründete 1874 in Berlin das erste »Pestalozzi-Fröbel-Haus«, das sich zum Ziel gesetzt hatte, »die Kleinkinderfürsorge und Jugenderziehung« zu verbessern sowie »Frauen für die Berufe der Hauswirtschaft und der Erziehung« auszubilden. Revolutionärer klangen dagegen die Bestrebungen Nelly Wolffheims, die versuchte, Sigmund Freud und Friedrich Fröbel zusammenzubringen, indem sie - ebenfalls in Berlin - 1922 den ersten psychoanalytischen Kindergarten Deutschlands gründete.
In vielem ähnelte die Leidenschaft, mit der sich die Deutschen dem Feld der frühkindlichen Erziehung widmeten, der Leidenschaft, mit der sie die Forstwissenschaft entwickelten. So wie der Wald durch die fortschreitende Industrialisierung bedroht war und nur eine Chance hatte, weiter zu bestehen, wenn er in einen Forst verwandelt wurde, war die frühkindliche Geborgenheit bei der Mutter durch die fortschreitende Emanzipation und außerhäusliche Berufstätigkeit von Frauen bedroht und musste durch den Kindergarten ersetzt werden. Auf beiden Gebieten gab es von Anfang an den Streit, wer von den neuen Einrichtungen am meisten profitierte. Die Fortschrittsfeinde meinten: die Industrie, indem man dafür sorgte, dass ihr der Rohstoff bzw. die billigen Arbeitskräfte nicht ausgingen. Die Fortschrittsfreunde hingegen waren überzeugt, dass sowohl Forst als auch Kindergarten mehr als bloße Notlösungen seien, sondern sich hier im Gegenteil eine Natur zweiter Potenz verwirklichen ließ: der Forst als der gesündere Wald; das im Kindergarten erzogene Kind als das glücklichere im Vergleich zu jenem, das nur im engen Familienkreis aufwuchs.
Schaut man sich in der Gegenwart um, hat sich am alten Streit nicht viel geändert. Den Fortschrittsfreunden erscheint der Kindergarten - oder die »Kita« - noch immer als der Ort, an dem gerade die Sprösslinge aus »prekären« Familien die einzige Chance erhielten, einen gelingenderen Lebensweg einzuschlagen. Die Seite der Fortschrittsfeinde hingegen kann sich heute entweder auf die Soziobiologie berufen, die vermeintlich wissenschaftlich begründet, wie schädlich eine Trennung von der Mutter für das Kleinkind sei, oder sie kann die beiden Irrwege ins Feld führen, die den deutschen Kindergarten zu einer Einrichtung gemacht hatten, die weniger am Wohl des Kindes interessiert war als vielmehr daran, genormte Mitglieder eines totalitären Systems heranzuziehen.
Die Merkwürdigkeit, dass manch »Linker« heute zwar die staatliche Kinderganztagsbetreuung mit Verve fordert, in der Forstwirtschaft aber noch immer ein Ärgernis sieht, während manch »Rechter« die umgekehrten Vorlieben und Aversionen pflegt, lässt sich nur damit erklären, dass kaum ein Deutscher die Hoffnung komplett aufgeben mag, irgendwo möge sich Natur doch noch in ihrer ursprünglichen Form erhalten. Und so kann es passieren, dass der eine, dem das Kreischen der Motorsägen keine schlaflosen Nächte bereitet, umso heftiger leidet, wenn er sich das Kreischen des Kindes vorstellt, das von seiner »Rabenmutter« in der »Kita« abgegeben wird. Und dass der andere, der im Kindergarten den Vorglanz einer besseren Zukunft sieht, weint, wenn er an die gefällten Stämme am Wegesrand denkt.
Die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies wird die Deutschen noch lange »den Wald« oder »die Mutter« verklären lassen. Dennoch scheint auch hierzulande langsam die Einsicht zu wachsen, dass Forst und Kindergarten zwar ihrerseits keine kommenden Paradiese sind, dafür aber Handlungsspielräume eröffnen, von denen Adam und Eva nur träumen konnten.
Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet, das haben seine Kinder gesehen; als sie nun am Nachmittag miteinander spielen wollen, hat das eine Kind zum andern gesagt: »Du sollst das Schweinchen und ich der Metzger sein«, hat darauf ein bloß Messer genommen, und es seinem Brüderchen in den Hals gestoßen. Die Mutter, welche oben in der Stube saß und ihr jüngstes Kindlein in einem Zuber badete,
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