Die deutsche Seele
Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.«
Zu den Unterzeichnern gehörten »als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kultur«: Richard Dehmel, Fritz Haber, Ernst Haeckel, Adolf von Harnack, Gerhart Hauptmann, Max Klinger, Max Liebermann, Friedrich Naumann, Max Planck, Max Reinhardt, Wilhelm Röntgen, Siegfried Wagner, Wilhelm Wundt. Den Text des Aufrufs soll der Komödienschreiber Ludwig Fulda verfasst haben. Eine Erwiderung, von Georg Friedrich Nicolai verfasst und mit dem beschwörenden Titel Aufruf an die Europäer versehen, fand nur noch die Unterstützung von Albert Einstein und zwei weiteren Unterzeichnern.
Die Gründe für den Ersten Weltkrieg sind nicht allein im Militarismus und der wilhelminischen Expansionsgier zu finden. Der Militarismus hatte durchaus eine eigene folkloristische Komponente. Den letzten Krieg hatte man 1870 geführt, also 44 Jahre davor. Es war eine Armee, die ungefähr so viel Kampferfahrung hatte wie die Bundeswehr in den 1990er Jahren, als sie auf den Balkan ging. Die Pickelhaubenträger hatten eher etwas Biercommenthaftes in ihrem Verhalten als zweckmäßige Kriegstreiberei. Und der angebliche slawische Hinterhof jenseits der Ostgrenze rebellierte längst erfolgreich gegen die Integration in ein deutsches Mitteleuropa. Er agitierte vielmehr für den Schulterschluss mit der Entente cordiale, dem Bündnis des Westens mit Russland, um die jeweiligen nationalstaatlichen Pläne verwirklichen zu können. Vor allem der tschechische Philosoph Tomas Garrigue Masaryk betätigte sich in alter böhmischer Tradition als Lobbyist und ging zu diesem Zweck während des Kriegs sogar in die Vereinigten Staaten.
Zu den Gründen für den Weltkrieg gehört auch, dass die Kaiserreichsdeutschen, die dem Westen ihre Wettbewerbsfähigkeit demonstrieren wollten, als lästige Konkurrenz registriert wurden. Je ähnlicher sie dem Westen wurden, desto lästiger waren sie. Sie hatten auf eine Visitenkarte gehofft und dabei ins Portefeuille gegriffen.
Das alles zusammen führte zu einer allgemeinen Interessenblockade. Den Rest des Porzellans zerschlug eine schon sprichwörtlich ignorante Diplomatie. Fazit: Die Kriegsfrage lässt sich nicht durch die Kriegsschuldfrage beantworten oder gar ersetzen.
Selbst für einen Weltkrieg kann der Ursprung nichtig sein. In diesem Fall war es die Ermordung des habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinand angelegentlich einer Visite im bosnischen Sarajevo. Das führt zur Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien, was wiederum dessen Schutzmacht Russland auf den Plan ruft und im Gefolge davon schließlich die Mächte des Westens, Frankreich und Großbritannien. Das deutsche Mitteleuropa, das von dem nationalliberalen Friedrich Naumann in seinem Buch Mitteleuropa beschworene, stand bald schon in einem Zweifrontenkrieg, den der Schlieffenplan ursprünglich verhindern sollte. Es hat ihn verloren.
Mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs und besonders mit der Art seiner Friedensverträge von 1919 und 1920 aus den Pariser Vororten, wie sie die Siegermächte durchgesetzt haben, wird grosso modo das gesamte 20. Jahrhundert und sein Missgeschick erklärt. So wird gesagt, dass mit dem Ersten Weltkrieg die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts zum Ende kam, und zwar nicht nur in den Gesellschaften der Verlierer, sondern auch bei den Siegern. Mit dem Ersten Weltkrieg war die Massengesellschaft zum ersten Mal, durch ihre Anonymität gesichert, auf die Bühne der Geschichte getreten. Dass der Auftritt weniger überzeugend als überwältigend war, blieb zunächst ohne Bedeutung.
Die Massen setzten sich in der Krise plötzlich unkontrolliert in Bewegung, sie ließen sich von nichts und niemandem mehr zur Ordnung rufen. Das Erlebnis der Sinnlosigkeit des Schützengrabens, Angst und Schrecken der Kriegshandlungen, der Dilettantismus der Befehlshaber in Heer und Politik treiben ihnen den Respekt vor der Staatsautorität aus. Im Schutz der anonymen Masse verwandeln sich die bis dato offiziell bewaffneten Scharen in rebellierende Haufen und aufbegehrende Anarchisten. Im allgemeinen Chaos kommt eine Art
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