Die deutsche Seele
Narrenkappe auf der Straße hin und her. Man sah eine laute Schar Kinder, die ihm folgte.
Bräuche muss man nicht begründen. Das, woran sich alle halten, bedarf nicht der Erklärung. Der gemeinsame Wille vereinfacht die kollektive Erinnerung, er entlastet den Einzelnen, und das ist letzten Endes ja auch der Sinn von Gemeinschaft.
Zwei Dinge sind es, die in Deutschland jedes Kind kennt: die Bundesligatabelle und die Karnevalsgepflogenheiten. An beidem nimmt man gleichermaßen Anteil. Trotzdem könnte der Unterschied größer nicht sein.
Während der Fußballclub identitätsstiftend wirkt und dem Einzelnen als Fan die Gefolgschaft ermöglicht, macht der Karneval ihn zum Spieler, zum Schauspieler in eigener Sache, aber nicht zum Helden. So ist das Fußballereignis ein Anlass für die viel beschworenen großen Gefühle, Freudentaumel oder abgrundtiefe Trauer, und der Karneval ein Freiheitserlebnis auf Zeit. Man hat zwar das Sagen, aber was sagt man schon?
Was kann man schon sagen, wenn der Schauplatz der Handlung eine Bühne ohne Zuschauerraum ist und es um nichts als um das Ich gehen soll, das der Karneval in den Ausnahmezustand zu versetzen weiß?
Beginnen wir bei etwas anderem: Es war sicherlich die größtmögliche Provokation, als um 1500 der Nürnberger Maler Albrecht Dürer sein Selbstbildnis im Pelzrock präsentierte. Dürer hat sich selbst gemalt, als Jesus, wenn man so will, aber unaufdringlich und ohne Heiligenschein. Er ist damit innerhalb des gültigen Zeichensystems geblieben, ohne sich bei der zu erwartenden mittelalterlichen Allegorie aufzuhalten. Er hat vielmehr die Frage nach dem menschlichen Selbst gestellt und dem Betrachter nahegelegt: So könntest auch du sein.
Mit den Selbstporträts tritt der Mensch in den Vordergrund, aber auch der Maler gerät ins Gespräch mit dem Betrachter, und so stellt sich die alles beherrschende Frage: Der zu sein, der man ist, und doch nichts als folgenreicher zu betrachten als den Zwang zum Ich - ist das, trotz allem, nicht die größte Last, an der man zu tragen hat?
Dürer war weder ein Verfolgter noch ein Verfemter, seine Botschaft galt nicht als subversiv, zumindest fiel er nicht einschlägig auf. Er galt vielmehr als einer der größten Künstler seiner Zeit in Europa. Dürer war ein Star. Er hat für seine Epoche nach dem Schock der Schwarzen Pest, als der Weiterbestand der abendländischen Lebenswelt in Frage stand und der Kirche dazu nichts weiter einfiel als das Wort von der »Strafe Gottes«, das Seinsgefühl mit seiner Malerei gestärkt.
Man hätte zu der Zeit noch »Ecce homo!« ausrufen können, ohne den Menschen dabei zu entlarven. Aber man weiß mit Dürer und den Seinen bereits: Wer die Maske aufsetzt, verdeckt sein Gesicht und versteckt sein Ich. Auch wenn er meint, es so zu schützen, und dieses vorgibt.
Werner Mezger, der Erforscher und Chronist der schwäbisch-alemannischen Fasnet, verweist auf die Psalterhandschriften des Mittelalters, und vor allem auf Psalm 52 und die an dessen Anfang anzutreffenden bildlichen Narrendarstellungen: »Dixit insipiens, in corde suo: non est Deus«, heißt es dort. »Der Narr sprach in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott.«
Das zur Respektlosigkeit verkleinerte Narren-Aufbegehren bezieht sich damit nicht nur auf die weltliche Ordnung, sondern auch auf die göttliche. Es ist eine durch den Brauch legitimierte Blasphemie!
Zunächst aber zum Karneval. Sein Ursprung ist, wie bei den meisten deutschen Angelegenheiten, im Mittelalter zu finden. Es ist die Fastnacht, die letzte Gelegenheit zu Ausschweifung und Zügellosigkeit vor der verbindlichen Fastenzeit. Dass es sich dabei um die Tage handelt, die Jesus in der Wüste verbrachte, war von Bedeutung, solange es ums Fasten ging. Der Karneval, wörtlich etwa fleischlose Zeit, aus den romanischen Sprachen abgeleitet, war von Anfang an eine städtische Angelegenheit und ist es auch geblieben. Die ledigen Handwerksgesellen sollen sich ursprünglich um das Fest gekümmert haben.
Es ist der Bürger, der den Ausnahmezustand braucht, die verkehrte Welt, um seine Grenzen zu ertragen. Mit der Fastnacht hat er eine Lizenz erworben. Sie trägt ihn gewohnheitsmäßig durch die Jahrhunderte, und wer am Ausnahmezustand rührt, bekommt Ärger.
Nachdem der Protestantismus sich ausreichender Gebiete bemächtigt hat, wagt er sich auch an den Karneval. Dem Protestantismus und seiner Übellaunigkeit ist dieser nicht gewachsen. Er verschanzt sich weitgehend innerhalb des Limes
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