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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Bettine Brentano. An dem überspannten Kinde war so gar nichts lau, dass der Meister recht bald versuchte, die »leidige Bremse«, die ihn nicht nur mit Briefen verfolgte, abzuschütteln. Ein Treffen mit dem als Gott verehrten sechzigjährigen Dichter im böhmischen Kurbad Teplitz nahm die junge Schwärmerin zum Anlass, ihren Tag- und Nachtträumen freien Lauf zu lassen: »Der Schweiß perlte über seinem herrlichen Mund, den er herb geschlossen hielt, er seufzte tief, er ächzte, ich ließ mich nicht stören, ich leckte alle Schweißperlen auf, er legte die Zunge auf die Lippen, ich biss sie ganz leise, ich biss auch in die Lippen, er drückte mich an seine Wangen und meine Tränen liefen ihm über das Antlitz; er sagte wieder: >Weib! Weib! wenn du wüsstest, wie süß du bist, dann! ja dann erst könntest du’s begreifen, wie streng die Fesseln sind, die deine Unschuld mir anlegt, dass ich’s nicht vermag, sie zu zerreißen.<« Die erotische Dichterinnenphantasie endet damit, dass Bettine in Pelz gehüllt mit einem Blumenstrauß im Arm die Nacht auf einem Kissen am Fußende jenes Bettes verbringt, in dem ihr Gott ruht. Als am nächsten Morgen das Posthorn tönt, verlässt sie das Heiligtum mit den Worten: »Goethe, ich hab heute Nacht bei dir geschlafen.«
    »Ich weiß es«, lässt sie ihn erwidern, »ich hab die ganze Zeit auf dich gesehen. Aber nun komm nicht wieder herein, sonst bist du und ich verloren.«
    Nichts von alldem hätte sich Susanna Margaretha Brandt träumen lassen, als sie sich in einer Nacht kurz vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1770 einem reisenden Holländer hingab, der in dem drittklassigen Frankfurter Gasthaus abgestiegen war, in dem sie als Dienstmagd arbeitete: Nicht, dass sie schwanger werden würde. Nicht, dass sie ihr Kind in der Waschküche des Gasthauses allein zur Welt bringen, töten und im Stallmist begraben würde. Nicht, dass die Kaiserliche Freie Reichsstadt sie zum Tod durch das Schwert verurteilen würde. Nicht, dass ein junger Rechtsanwalt namens Johann Wolfgang Goethe den Prozess verfolgen und sie zu einer der berühmtesten Frauenfiguren des Theaters machen würde.
    Eigentlich ist Gretchen ein ganz normales Mädchen. Ein bisschen kokett, ein bisschen goldgeil, ansonsten halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen. Und vermutlich würde sich heute ihrer niemand mehr erinnern, hätte Goethe ihr nicht Fallhöhe verliehen, indem er sie in seinem Drama keinem x-beliebigen holländischen Kaufmannsdiener über den Weg laufen lässt, sondern dem deutschen Mythos schlechthin. An keiner Stelle der Vernehmungs- und Gerichtsprotokolle ist herauszuhören, dass die reale Susanna Margaretha in jenen Namenlosen verliebt gewesen wäre, der sie zu einigen Gläsern Wein eingeladen hatte, »wodurch sie dergestalten in die Hitze gekommen, dass sie seinen Ausfällen nicht habe widerstehen können«. Zur liebenden Frau machte erst Goethe sie - wenngleich auch sein Gretchen sich wenigstens im finalen Fieber als sinnlich begehrendes Weib zeigen darf: »Küsse mich! Sonst küss ich dich!«
    Die historische »Brandtin«hatte im Laufe des Prozesses immer überzeugter erklärt, dassSatan sie dazu getrieben habe,ihre Schwangerschaft zu verheimlichen und das Kind zu töten.(Wobei bis heute umstritten ist,ob sie dies erst tat, nachdem ihrVertreter der Frankfurter Justizmit der - schon damals nichtmehr legalen - Folter gedrohthatten.) Goethes Gretchen isthimmelweit davon entfernt, Mephisto für ihr Verbrechen verantwortlich zu machen. Wenn im Faust jemand im wahrsten Sinnedes Wortes vom Teufel »besessen« ist, dann ist es der Doktor deutsche Volkssage von Friedrich Wilhelm Murnau, 1926 selbst. Goethe erhöhte die unglückselige, aber letztlich banale Kindsmörderin zur tragischen Gestalt, bei deren Anblick einen der ganzen Menschheit Jammer anfassen kann, indem er sie am Schluss dem Teufel und seiner Marionette, dem ehemals von ihr so geliebten Heinrich, die Kerkertür weisen und lieber aufs Schafott gehen lässt, als mit beiden zu fliehen.
    »Gott, meines Lebens Herr! Was widerfährt rr Lucie Höflich als Käthchen von Heilbronn in Inszenierung Max Reinhardts am Deutschen Theater Berlin, 1905.
    Gretchens Aufstieg zu einem der langlebigsten deutschen Frauenbilder mag sich daraus erklären, dass in ihr Biederkeit und Abgrund, Sünde und Unschuld auf ebenso kunstvolle Weise verflochten sind wie das dicke blonde Haar auf ihrem Kopf. Zur Ikone taugt sie allerdings nur für weibliche Wesen, die im Grunde ihres

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