Die deutsche Seele
Flaggenhisser. Wer den Niemandsort erreichte, war - tot oder lebendig, mit abgenagten Knochen oder der Fahne über dem Kopf - ein Held. Er hatte seinen Platz in der Nationalgeschichte und darüber hinaus in der Weltgeschichte des Sports.
Heute kann man für eine Leistung von nationalem Rang höchstens mit einem Bundesverdienstkreuz rechnen, und das bekommt man schon für einen Beitrag zur Entwicklung des deutschen Schlagers.
Deutsche mischen bei den Polrennen kaum mit. Nur einer begibt sich ins ewige Eis. Das ist Alfred Wegener, der Meteorologe und Geowissenschaftler. Sein Ziel war Grönland. Der aus einer Pastorenfamilie stammende Wegener arbeitete nach einem Studium der Physik, Meteorologie und Astronomie, zunächst an der Volkssternwarte Urania in Berlin. Das Sternegucken aber hielt er bald für nicht lohnend und so wandte er sich dem Rest seiner Ausbildung zu.
Er hat zahlreiche Bücher zum Thema Meteorologie verfasst, deren Ergebnisse vor allem auf seiner Beteiligung an zwei Grönland-Expeditionen beruhten. Als sein Hauptwerk aber gilt heute das 1915 in einer ersten Fassung publizierte Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Es ging darin vor allem um die Kontinentaldrift, für uns Laien: das Auseinanderbrecfien von Afrika und Amerika. Wegener wurde dafür zu Lebzeiten von der gesamten Fachwelt angefeindet, weil diese sich nicht von ihrer Theorie der Landbrücken verabschieden konnte. (Die Vorkommen von Fossilien gleicher Art auf verschiedenen Kontinenten wurden durch Wanderung über jene Landverbindungen erklärt.) Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung aber wurde zu einer der wichtigsten Voraussetzungen für die heutige Forschung zur Plattentektonik.
1930 kehrte Wegener von seiner dritten Grönland-Expedition nicht mehr zurück. Obwohl er nicht an den Pol-Wettläufen beteiligt war, hatte er doch den Tod im unbezwingbaren Eis gefunden.
Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass auch dieser Mann, der viele Ideen hatte und auch umzusetzen verstand, seinen Beitrag zur Welt des Schaulaufs geleistet hat. Für die Teilnehmer an seiner letzten Grönland-Expedition entwarf Wegener Spezialkleidung nach dem Vorbild des grönländischen Anoraks. Das Modell wurde später von der Wintersportmode übernommen.
Die Pol-Expeditionen markieren das Ende der geographischen Erfassung. Von der Reise in die große weite Welt geht es unverkennbar zurück zum Ich. Die nächste Runde gehört im 20. Jahrhundert den Bergsteigern. Sie sind nicht mehr Forscher, sondern Leistungssportler.
>Bergfilm, Doktor Faust, Gründerzeit, Sehnsucht
Freikörperkultur
Ein einsamer Strand in der Bretagne, es ist kalt. Ein nacktes Paar, Mann und Frau, jagt sich federballspielend über den Sand. Dem jungen Franzosen, der von Kopf bis Fuß in Neopren vermummt sein Surfbrett unter den Arm klemmt und der Brandung entgegeneilt, ist klar: Deutsche - obwohl das Meeresrauschen die Rufe, die zwischen beiden hin- und herfliegen, übertönt. Auf der anderen Seite des Atlantiks ist derweil ein amerikanischer Familienvater sicher, dass es keine Gerrilyn ist, die sich auf dem Handtuch neben seinen Kindern so selbstvergessen textilbefreit sonnt, sondern eine Gerlinde, weshalb er sie gleich auf Deutsch bittet, sich ein wenig zu bedecken. Gerlinde allerdings will nicht gedankenlos provozieren, sie hat über »Utopien der Nacktkultur im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik« promoviert, und weil der Amerikaner so gut Deutsch spricht, erklärt sie ihm, dass sie hier mitnichten einfach nur nackig herumliege, sondern vielmehr mit einem »Lichtkleid« angetan sei.
So hüllenlos der deutsche Nudist/Naturist/FKKler durch die Welt streift, so gewaltig ist der Überbau, den die »Nacktkultur« in ihrer Entstehungszeit errichtet hat. Die Anfänge reichen zurück ins ausgehende 19. Jahrhundert. Keine frivole Marotte soll gerechtfertigt werden - es geht ums gesellschaftskritische Ganze.
Industrialisierung und Urbanisierung haben in Deutschland später eingesetzt als in anderen westlichen Ländern, dafür entwickelt sich die neue, am Tropf der Technik hängende Massengesellschaft umso schneller. Lebten 1871, zur Zeit der Reichsgründung, noch etwa zwei Drittel der Deutschen in Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern, sind es 1910 nur noch vierzig Prozent. Im Gegenzug ist der Anteil derjenigen, die in Städten mit mehr als 100000 Einwohnern leben, von fünf auf zwanzig Prozent gestiegen. Der Bauer spannt im Märzen keine Rösslein mehr an, setzt
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