Die deutsche Seele
keine Felder und Wiesen mehr in Stand, während die Bäu’rin im Garten gräbt und recht - eingespannt sind beide jetzt in maschinelle Produktionsabläufe, statt geeggt und gesät wird geschraubt und gefalzt, den Rhythmus geben nicht mehr das Wetter und die Jahreszeiten vor, sondern der sommers wie winters gleiche Zehn-Stunden-Tag. Ihren Feierabend verbringen der ehemalige Bauer und die Bäu’rin nicht mehr unter der schattigen Linde auf ihrem Hof, sondern eingepfercht hocken sie, zusammen mit ihren fünf Kindern, in einer dunklen Zwei-Zimmer-Hinterhof-Wohnung und hoffen, dass sie sich bald eine Bleibe mit Fenster werden leisten können.
Wie so oft in der Geschichte leiden nicht diejenigen, die selbst im verrußten Kellerloch sitzen, am ausdrucksstärksten, sondern die Bewohner von Beletage und Jugendstil-Villa, denen die Apokalypse vor der Tür zu stehen scheint, wann immer sie daran denken, was aus der Welt geworden ist. Stellvertretend für das Industrieproletariat, das zum Teil tatsächlich unter unwürdigsten Umständen haust, verzweifeln die gebildeten Stände an der fortschreitenden Moderne und formulieren als große Ausbruchsdevise: Raus! Raus aus den verpesteten Städten! Raus aus den engen Gassen! Raus aus dem »stahlharten Gehäuse« von Bürokratie und Industrie, von Technik und Geldwirtschaft!
Nackt und tierlieb: Zeichnung Du sollst nicht töten! von Hugo Höppener, alias Fidus, 1892.
Unter dem Schlagwort »Lebensreform« entstehen seit den 1880er Jahren die verschiedensten alternativen Bewegungen, die - so unterschiedlich sie sind - alle an der Krankheit Zivilisation herumlaborieren und Erlösung durch radikale Umkehr versprechen: Gegen die sich etablierende Impf- und Schulmedizin wird die Naturheilkunde ins Feld geführt; der ehemalige Dorfpfarrer Sebastian Kneipp verspricht, den siechen Menschen dank Wasserkuren und Diäten ganzheitlich gesunden zu lassen; Rudolf Steiner beginnt, Goethe, Gnosis und manches mehr zur Anthroposophie zu kreuzen; jugendliche Wandervögel schultern Rucksack und Klampfe, um singend ins Grüne hinauszuziehen; und als habe Eva damals im Paradies nicht in den Apfel, sondern in die Schlange gebissen, erkennen leidenschaftliche Vivisektionsgegner und Vegetarier im Tiere-Quälen und Tiere-Essen den Sündenfall, den es rückgängig zu machen gilt. Rousseau ist seit über hundert Jahren tot - doch nie und nirgends findet sein Ruf »Zurück zur Natur!« ein kräftigeres Echo als im deutschsprachigen Raum an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Am wörtlichsten nehmen das große anti-zivilisatorische »Raus!« jene, die glauben, die Kluft zwischen Leib und Seele, zwischen Kosmos und Mensch, zwischen Reich und Arm schließen zu können, indem sie die Hüllen fallen lassen.
Der erste Nudist aus Überzeugung ist der Maler Karl Wilhelm Diefenbach. Seine Konversion zum Lebensreform-Glauben geschieht in den 1870er Jahren: Nach einer Typhus-Erkrankung muss er operiert werden, sein rechter Arm bleibt verkrüppelt. Diefenbach ist überzeugt, Naturheilkunde und fleischlose Kost hätten ihn kuriert, weshalb er zum Verkünder einer vegetarisch-naturnahen Lebensweise wird. Barfuß, mit wildem Bartwuchs und in eine Kutte gekleidet wandelt er durch München und predigt gegen den »Verzehr von Tierfetzen«. Obwohl man im Schwabing jener Jahre esoterische Exzentriker gewohnt ist, kommt es zu regelmäßigen Zusammenstößen zwischen dem »Kohlrabi-Apostel« und der Obrigkeit. 1887 zieht sich Diefenbach nach Höllriegelskreuth ins Isartal zurück - und gründet dort in einem stillgelegten Steinbruch die erste Kommune, in der nach seinen Vorstellungen gelebt werden darf bzw. muss. Der Aussteiger entpuppt sich - wie manch einer nach ihm - als autoritärer Guru: Fleisch, Tabak, Alkohol, Privatbesitz und bürgerliche Ehe sind tabu, der Meister bestimmt, wer wann mit wem in welcher Weise verkehren darf oder auch nicht. Gemeinsam wird ein Körperkult zelebriert, der auf »Licht, Luft, Sonne, Nacktheit und Beschwingtheit« fußt.
Weltanschaulich nicht weniger aufgeladen, aber deutlich mondäner gibt sich die Künstler-Kolonie »Monte Veritä«, die 1900 auf einem Hügel oberhalb des schweizerischen Ascona u. a. von Gusto Gräser gegründet wird. Seine ersten Erfahrungen mit alternativem Leben hat der siebenbürgische Dichter bei Diefenbach gesammelt. Der Friede zwischen Pazifisten und Anarchisten, Nudisten und Ausdruckstänzerinnen, Anthroposophen und Psychoanalytikern, Veganern und Vegetariern ist
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