Die deutsche Seele
AEG wird zum erfolgreichsten Elektrounternehmen der Zeit. Ihren Ingenieuren gelingt 1891 anlässlich der Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt am Main die Übertragung von Drehstrom über eine Strecke von 175 Kilometern. Damit beginnt in Deutschland die allgemeine Elektrifizierung mit Wechselstrom.
Durch die fortlaufende Ausdifferenzierung der technischen Möglichkeiten wurde aus der Zufallserfindung immer häufiger eine Tätigkeit mit Methode. Erfinder wurden zu Forschern. Ihr Ort wurde das Labor. Dort nahmen die großen Erfindungen der Physik und Chemie, nicht zuletzt der Medizintechnik, ihren Anfang.
Um die Jahrhundertwende glaubt sich Deutschland jedem Wirtschaftskrieg gewachsen. Seine Produkte sind von Weltrang. Sein geistiges Potenzial ist kaum auszuschöpfen. Frankreich und Großbritannien sind abgeschlagene Gegner. Nur noch Amerika gilt als ein ernst zu nehmender Konkurrent.
Damit ist die Gründerzeit erfolgreich abgeschlossen, und es kommt zum alles vernichtenden Krieg, in den sich die europäischen Mächte gegenseitig hineinziehen wie in ein böses Märchen, an dessen Ende sich Zuhörer und Erzähler gleichermaßen verloren vorkommen.
Worin aber bestand die Krise, worin besteht sie?
Die Gründerzeit lehrt uns, dass für Leistung Zuversicht nötig ist, vor allem aber der Wille zur Gestaltung. Dazu gehört auch, kühne Ideen zuzulassen, sie zu fördern. Eine Krise ist nicht nur Finanz- oder Wirtschaftskrise, sie ist vor allem eine Krise der Werte. Die Werte aber bestimmen das Verhalten.
Man kann sich um die Erneuerung der Industrie bemühen oder für das Guinness-Buch der Rekorde trainieren. Die Entscheidung darüber liegt bei einem selbst. Das sollte man bedenken.
>Arbeitswut, Dauerwelle, Eisenbahn, Fahrvergnügen, Grundgesetz, Sozialstaat
Grundgesetz
Manchmal denkt man ja, in schlimmen Zeiten ginge es ums Essen, oder wie Brecht es wohl gesagt hat, ums Fressen. Und manchmal denkt man auch, wenn die schlimmen Zeiten dann vorbei sind, ginge es wieder nur ums Fressen. »Wenn das Haus zerstört ist«, schreibt die Dichterin Marie Luise Kaschnitz, »müssen wir uns an die Dinge halten, die noch immer da sind, die Bäume über dem Hohlweg der Kindheit, das Sternbild, das zu Häupten der nächtlichen Straße noch immer an derselben Stelle steht. In den Trümmern zu wühlen ist eine widerwärtige und sinnlose Beschäftigung. Aber war denn dieses verlorene Haus eines aus Mörtel, Lehm und Stein? Bestand es nicht vielmehr ganz und gar aus der Gewissheit und dem Traum?«
1949 ging es um die Verfassung. Um weniger konnte es gar nicht gehen. War doch die Kapitulation vier Jahre davor einem Offenbarungseid der Nation gleichgekommen. Von Deutschland war nicht viel mehr übrig als »Trizonesien«, wie die Kabarettisten der Zeit das Gebiet der drei West-Besatzungszonen zu nennen pflegten. Den Rest hatte sich »der Russe« bereits unter den Nagel gerissen, und nun ergab sich bei allem Desaster doch noch eine Chance für Westdeutschland, durch den Kalten Krieg, der gerade seinen Anfang nahm. Er stimmte die Westalliierten nachdenklich und kürzte die Überlegungen über die Zukunft der Deutschen ab. Man rechnete wieder mit uns. Der neue Feind war der alte Verbündete der Alliierten, aber auch der Nazis: Stalin.
Preußens Seniorhistoriker Friedrich Meinecke veröffentlichte noch 1945 seine Gedanken über die deutsche Katastrophe, ein Jahr darauf konnte Ernst Niekisch, notorischer Wanderer zwischen den Welten, West und Ost als deutsche Schicksalskoordinaten entschlüsseln, und dann kam auch schon ein Erik Reger, Mitbegründer des Berliner Tagesspiegels, mit der Losung »Vom künftigen Deutschland«. Reger schreibt 1947 dieses: »Nahezu die Hälfte des einst voreilig gepriesenen zwanzigsten Jahrhunderts liegt hinter uns. Was immer die andere Hälfte bringen mag, wird Folge dessen sein, was zwischen 1914 und heute geschah. Die für die ganze Welt entscheidende Frage lautet, ob der Beitrag des deutschen Volkes zur zweiten Jahrhunderthälfte ebenso rühmlich sein wird, wie sein Anteil an der Gestaltung der ersten unrühmlich war.«
Neben der Konstellation des Kalten Kriegs war es vor allem dieses Pathos der »Verantwortlichkeit vor der Geschichte«, wie Reger es nennt, das den Deutschen ihren Neustart erlaubte. Alle durften die Finger in die Wunde legen. Denn aus den Deutschen sollten diesmal Verbündete werden. Und zwar im Schnellverfahren.
1948 gibt es im Westen Deutschlands elf
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