Die deutsche Seele
segeln wir im nächsten Jahr bis Kopenhagen!
>German Angst, Kleinstaaterei, Krieg und Frieden, Vater Rhein
Gründerzeit
»Krise« ist eines der Wörter mit der wahrscheinlich größten Verbreitung. Mehr noch, es überschreitet fast alle Grenzen. Mit dem Wort gehen Oberschicht und Unterschicht gleichermaßen genervt um. Die Oberschicht sieht sich von der Krise bedroht, die Unterschicht, die früher gelegentlich Schadenfreude zeigte, hat Angst. Sie müsse um den Sozialstaat bangen, sagt man ihr. Die Oberschicht wiederum fürchtet mehr das Chaos als die Revolution. Die Krise gehört zum festen Kommunikationsrepertoire in unserer Gesellschaft.
Auch die Historiker verhalten sich nicht anders als alle anderen. Sie verschonen uns weder mit den Krisen ihres Objekts noch des Metiers. Nicht selten berichten sie aus den vergangenen Zeiten mit einer Genugtuung, die sonst nur ein Märchenerzähler verspürt, wenn er einmal eine Geschichte erzählen darf, die ein böses Ende nimmt.
Selbst wenn von der Gründerzeit des deutschen Kaiserreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rede ist, wird zunächst einmal die Krise ausgepackt. 1873: Finanzkrise! Stagnation habe Deutschlands Wirtschaft erfasst, für ganze zehn Jahre. Mag sein. Man könnte sich über das statistische Material streiten, aus dem dies abgeleitet wird, es wäre aber nur ein Nebenschauplatz dessen, was wir hier erzählen wollen und was von viel größerer Bedeutung ist als die sogenannte Krise. Letzten Endes ist diese eine Verlegenheit von Bankhäusern. Der Börsenkrach ergab sich aus dem Zusammenhang zwischen maßloser Spekulation und überhitzter Konjunktur, wie die Fachsprache es nennt. Über die Realwirtschaft muss das noch nichts Besonderes aussagen.
Unbestritten ist, dass in dieser Zeit die Erfinder reihenweise mit erstaunlichen Ideen, bedeutsamen technischen Neuerungen und Entwicklungen in Erscheinung treten. Sie katapultieren das Land und seine Gesellschaft in kürzester Zeit nach vorn. Damit sind wir bei der eigentlichen Frage: Wie war das möglich? Wie schafft es ein Agrarstaat, innerhalb von nur zwei Jahrzehnten in eine der Spitzenpositionen der Weltwirtschaft zu gelangen? Es hängt zwar vieles von den Finanzierungsmöglichkeiten ab, aber woher kommt dieser Schöpfergeist - dieses wichtigste Element im Gesamtprozess der Wertschöpfung?
Der Ausgangspunkt ist im Umbruch von den reinen Naturwissenschaften zur Technik im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu suchen. Die Naturwissenschaften waren noch zu akademisch gebunden, zu theoretisch abstrakt und von »Scholastik« grundiert, ihre Entdeckungen bezogen sich auf das Vorgefundene, auf die Natur, deren Erscheinungsformen zur Interpretation herausforderten oder auch nur einluden.
Ganz anders verhält es sich mit der Technik. Technik ist nicht primär an Naturgegebenheiten geknüpft, sie ist vielmehr die Methode, mit der künstliche Formen geschaffen werden können, um einem Zweck zu dienen. Natur ist zuweilen erhaben, Technik im besten Fall raffiniert.
Dafür verpflichtet sie zu nichts. Bei ihr geht es um den Einfall. Ihn muss man nicht einmal erklären, man muss ihn nur umsetzen, verwirklichen. Ob man dabei bloß einem Trick folgt oder einem Gesetz auf der Spur ist, ob man dieses Gesetz für einen Trick hält oder den Trick für ein Gesetz, ist nebensächlich - worauf es ankommt, ist das Know-how.
Dass die Deutschen so erfolgreich wurden, als die Technik die Gesellschaft zu beherrschen begann und so die Industrialisierung in ihrer ganzen Bandbreite erst möglich machte, hat sicherlich mit den Anfängen deutscher Arbeitsformen zu tun. Während Engländer und Franzosen seit dem Mittelalter das Hauptaugenmerk auf die Manufaktur legten, auf Tuche und Webstoffe und den einschlägigen Handel, fielen die Deutschen vor allem durch Tüftelei und handwerkliches Geschick auf. Sie waren Goldschmiede und Uhrmacher, Drechsler und Gerber, Steinmetze und Büchsenmacher, setzten das Handwerk gegen die Manufaktur. Von dieser Tradition aber konnte nun die Industrialisierung profitieren.
Auch hatten Absolutismus und Aufklärung abgewirtschaftet, man musste ohne große Worte auskommen, ohne den verlogenen Ton der Huldigung und die brüchige Stimme der Vernunft, und so war menschliches Handeln in viel größerem Maße möglich als in den Zeiten davor.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts schuf die Grundlagen der industriellen Arbeit und Wertschöpfung. Sie stand im Zeichen des reinen Nutzens. Alles
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