Die Diagnose: Thriller (German Edition)
verlassen hatte, ohne innezuhalten und zu helfen, wie es mein Beruf eigentlich erfordert hätte. Warum war ich nicht geblieben, um ihm zu helfen? Er hatte vor mir gesessen, getrunken, gebeichtet. Wie viel lauter hätte er denn noch um Hilfe schreien sollen? Dann kam mir ein anderer Gedanke: Selbstmord? Beim letzten Mal war es Mord. Bei Harry war es dasselbe, und er ist von den Toten wiederauferstanden. Ich wollte glauben, dass auch Felix wieder lebendig werden würde.
»Ben!« Es war die ferne Stimme von Joe, der so laut ins Telefon schrie, dass er endlich zu mir durchdrang.
»Mir geht’s gut«, sagte ich und rang um Fassung. »Das ist ein Schock. Ich habe ihn gekannt. Er ist mit mir in der Gulfstream geflogen. Ich habe ihn vor zwei Tagen getroffen. Er war ein anständiger Kerl.«
»Wo haben Sie ihn getroffen?«, fragte Joe nervös. Falls das überhaupt möglich war, dann war ich als Mandant in seinen Augen eindeutig noch weiter abgesunken.
»In seiner Wohnung an der Upper West Side. Er hat mich auf einen Drink eingeladen.«
»Wissen Sie, warum er es getan hat? Hat er etwas zu Ihnen gesagt?«
Als er diese Frage stellte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass der Fernsehbildschirm ein anderes Bild zeigte, und als ich hinschaute, spielten sie das Video von der Anhörung vor dem Senat in Washington ab. Um Felix, der hinter Harry und Greene saß, zu identifizieren, war um seinen Kopf ein roter Kreis gezogen. So wird man sich an ihn erinnern , dachte ich, als an den Mann im Hintergrund . Ich erinnerte mich an seine niedergeschlagene Miene, als er das Glas gehoben hatte. Treue Diener , hatte er gesagt.
Ich überlegte, ob Joe ich die Wahrheit sagen sollte, doch ich redete mich damit heraus, dass es nur Felix’ Erinnerung beschmutzen würde, ohne mir etwas zu bringen.
»Nichts Wichtiges«, log ich. »Es schien ihm gut zu gehen.«
Das hätte es gewesen sein können, wäre nicht Gabriel gewesen, der auf mich wartete, als ich drei Tage später mein Büro verließ, um zum Mittagessen zu gehen. Er saß auf dem Sofa bei den Aufzügen unter einem Anschlagbrett, an dem ein paar Richtlinien über affektive Störungen hingen. Er zog meine Aufmerksamkeit auf sich, weil er so entspannt dasaß − nicht wie ein ängstlicher Patient oder ein Vater, der auf sein Kind wartete, das in Behandlung war − und weil er mir vage bekannt vorkam. Als ich vorbeiging, sah er auf mein Namensschild und dann auf mein Gesicht und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Dann stand er auf.
»Dr. Cowper? Mein Name ist Gabriel Cardoso. Wir hatten, glaube ich, einen gemeinsamen Freund. Felix Lustgarten.«
Er sprach ohne Hast mit voller Stimme, doch seinen Akzent konnte ich nicht recht zuordnen − vielleicht Spanisch. Gabriel, genau. Ich erinnerte mich daran, wie er auf dem Balkon seiner Wohnung in Tribeca gestanden hatte, auf der Party an dem Abend von Greenes Tod. Ich hatte mich mit Lucia unterhalten, bevor wir zusammen weggegangen waren, und sie hatte auf ihn gezeigt. Ich erinnerte mich an die Aura der Distanziertheit, die er ausgestrahlt hatte, als würde er die meisten Gäste nicht kennen, sich aber freuen, dass sie da waren.
»Ich bin sehr traurig über seinen Tod«, fuhr er fort. »Wir waren nicht eng befreundet, würde ich sagen, aber wir waren mal Kollegen. Ich mochte ihn.« Er erweckte den Eindruck, dass er das nicht leichthin sagte, er hatte seine Standards.
»Mir tut es auch leid. Ich hatte ihn gerade erst kennengelernt. Wollen wir?«
Ich zeigte auf das Sofa und setzte mich, ohne den Mantel abzulegen − ich wusste nicht, wie lange ich bleiben wollte. Gabriel griff in eine Jackentasche und zog einen Umschlag heraus, auf den sein Name und, wie ich vermutete, seine Anschrift gekritzelt waren. Darin waren zwei Blätter, ziemlich abgegriffen, und ein USB-Stick.
»Den habe ich gestern mit der Post bekommen«, sagte er stirnrunzelnd. »Ein Brief von Felix, und das hat er beigelegt.« Er hielt den USB-Stick zwischen Daumen und Zeigefinger. »Darauf sind jede Menge Dokumente. Ich habe sie mir gestern Abend angesehen und fand sie höchst interessant, ja, geradezu bestürzend. Felix bat mich, sie Ihnen zu zeigen. Nur Ihnen, niemandem sonst.«
Ich betrachtete den Stick in Gabriels Hand. Felix hatte mit nichts angedeutet, dass er dies vorhatte, und ich verstand nicht, warum er mir von jenseits des Grabes einen Abgesandten schickte.
»Wenn er wollte, dass ich es sehe, warum hat er es dann an Sie geschickt?«, fragte ich.
»Also … Dazu
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