Die Diagnose: Thriller (German Edition)
und bin auf der Rückseite des Hauses wieder rausgekommen. Da bin ich die Dünen raufgestiegen und habe die Treppe genommen, um zu spionieren.«
Ihre Worte brachten die Erinnerung zurück, wie ich hinter Harry diese Stufen hochgegangen war und die Rückseite des Hauses erblickt hatte. Nora hatte auf dem Sofa gesessen und in einer Zeitschrift geblättert. Von diesem Punkt konnte man alles sehen, was im Haus vor sich ging.
»Sie waren in seinem Arbeitszimmer. Harry saß in einem Sessel, vorgebeugt, den Kopf in die Hände gestützt. Es sah aus, als würde er weinen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Sie kniete vor ihm und hatte ihm die Hände um den Kopf gelegt, wie in einer tröstlichen Geste. Ich glaube, sie hat auch geweint. Während der Minute, die ich ihnen zusah, rührten sie sich kaum. Ich bin die Treppe wieder runtergegangen, bevor sie mich bemerken konnten.«
»Wann war das?«
»Vor einem Monat.«
Ein Monat. Eine Woche bevor Nora Harry mit einer Waffe in diesem Raum gefunden und ihn in die psychiatrische Notaufnahme gebracht hatte. Was sich auch immer zwischen ihm und dieser Frau abgespielt hatte, musste ihm noch im Kopf herumgespukt sein. Doch vor allem hatte er mir nichts davon erzählt, und ich hatte es nicht wissen können. Harry hatte mich angelogen, doch statt enttäuscht zu sein, spürte ich einen Funken Erleichterung.
»Weiß Mrs Shapiro davon?«
»Ich glaube nicht. Sie sagt immer wieder, wie leid er ihr tut, was für eine schwere Zeit er durchmacht. Wenn sie wüsste. Es macht mich unglaublich wütend. Sie sind der Einzige, dem ich es je gesagt habe, Ben. Sie müssen es unbedingt für sich behalten.«
Anna blieb stehen und streckte den Arm aus, um mich ebenfalls aufzuhalten. Wir standen im Park unter einem blassen Mond und sahen einander an. Der Situation wohnte eine außerordentliche Intimität inne – wir waren die Einzigen, die von Harrys Affäre wussten, obwohl Anwälte, Reporter, Fotografen und Polizisten herumliefen, um auch die kleinsten Details über ihn und was er getan hatte, zusammenzukratzen. Ich hatte das Gefühl, als wären wir auch emotional verbunden, obwohl wir nur mit einer Beziehung geliebäugelt hatten.
Sie war nicht die Einzige, die außer sich war. Ihre Beschreibung von Noras Vertrauen in Harry hatte die Erinnerung daran geweckt, dass auch meine Mutter sich geweigert hatte, meinen Vater zu verurteilen. Wie unter Zwang hatte sie nur das Beste von ihm gedacht – was mich stocksauer gemacht hatte. Es war etwas, was Anna und mich verband, abgesehen von dem schwer zu definierenden Funken zwischen uns. Wir waren vereint in einer Art blindem Vertrauen in die Ehe und in dem Zorn darüber, dass sie von einem hemmungslosen Mann in den Schmutz gezogen wurde.
»Wer war diese Frau?«, fragte ich.
»Versprechen Sie es mir?«, beharrte sie.
»Ich verspreche es.« Ich wollte mich zu nichts verpflichten, und Anna war nicht meine Patientin, also war ich ihr nichts schuldig, aber ich konnte mich auch nicht weigern. Sie hatte mich in der Hand, und ich hatte Schuldgefühle, weil ich sie benutzte.
»Ich weiß nur ihren Name, Lauren Faulkner, und dass sie mal mit ihm zusammengearbeitet hat. Das hat er mir erzählt. Im Auto hat sie nicht viel gesagt, nur ›Hallo‹ und ›Danke‹. Oh, und sie liebte das Meer, das hat sie gesagt. Sie war eine Stunde da, dann habe ich sie wieder nach Hause gefahren. Immerhin habe ich sie nicht beim Bumsen erwischt.«
Wir zogen einen Bogen durch den Park und kehrten zum Columbus Circle zurück, wo wir am Rand der einundsechzigsten Straße stehen blieben. Sie schaute zu mir auf, und die Lichter, die von den Türmen schienen, beleuchteten ihr Gesicht wie eine Clownsmaske.
»Ich gehe jetzt besser«, sagte sie. »Ich unterhalte mich gern mit dir.«
Sie wandte sich mir zu, legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte ihre Lippen kurz auf meine. Dann wandte sie sich ab und rannte, bevor ich reagieren konnte, durch eine Lücke im Verkehr und ließ nur die süße Erinnerung zurück.
13
Ich kann mich nicht genau an alles erinnern, was dann geschah, aber ich weiß, dass ich ein paar Minuten dastand und nachdachte und den Kuss und das, was sie mir erzählt hatte, zu begreifen versuchte. Dann wandte ich mich wieder dahin, wo wir hergekommen waren. Ich gehe durch den Park und nehme an der Ecke Neunundfünfzigste und Lexington Avenue die U-Bahn , dachte ich. In mir schlugen die Gefühle Purzelbäume − Freude, mit ihr zusammen zu sein, Aufregung über ihre
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