Die Diagnose: Thriller (German Edition)
normalerweise längst abgeräumt, bevor ich zu den Patienten kam, und jetzt begriff ich, warum einige so schlecht auf den Laden zu sprechen waren. Die Sonne schien durch das Eckfenster, und ich lag mit der New York Times auf dem Bett und wartete darauf, dass die Bürokratie sich in Gang setzte, damit ich entlassen werden konnte. Ich hatte Kopfschmerzen, und der Anblick meines ramponierten Gesichts im Badezimmerspiegel war nicht gerade erquicklich gewesen, aber ich hatte es überlebt.
Um halb zehn klopfte es, und ich ließ die Zeitung sinken, halb in der Erwartung, Rebecca zu sehen, doch stattdessen steckte Jim Whitehead den Kopf zur Tür herein. Er hatte sein Kommen nicht angekündigt, und ich war nicht begeistert darüber, doch ich hatte wohl keine Wahl. Ich konnte meinem Chefarzt nicht das Recht verweigern, nach mir zu sehen.
Wenn er nicht auf York Ost zu tun hatte, arbeitete Jim in seiner Privatpraxis in der sechsundfünfzigsten Straße. Ich hatte den Verdacht, dass er damit eine berufliche Aussage im Dienste der Hochkirche von Sigmund Freud traf, weg von der offiziellen Leitlinie des Episcopal, das sich damit brüstete, für alle Behandlungsmethoden aufgeschlossen zu sein − Drogen, kognitive Verhaltenstherapie −, Hauptsache, es half. Der entscheidende Hinweis war seine Couch, ein Ding aus schwarzem Leder und Chrom, die mir aufgefallen war, als ich in seiner Praxis in einem Ärztehaus vorbeigeschaut hatte. Es ergab Sinn: Manhattan war der einzige Ort auf Erden, wo genug reiche Neurotiker lebten, die bereit und in der Lage waren, fünf Stunden die Woche mit dem menschlichen Äquivalent einer Backsteinmauer zu reden.
Jetzt lag ich hier vor ihm auf dem Rücken und überlegte, ob er die Gelegenheit zu einer kleinen Analyse nutzen würde, doch er stand nur eine Minute lang mit seinem Klemmbrett da und betrachtete mich mit einer Miene, die Zweifel an meiner psychischen Stabilität andeutete. Dann setzte er sich ans Bett und legte sich das Klemmbrett umgedreht auf den Schoß.
»Sie hatten großes Glück«, sagte er.
Ich klopfte mit den Knöcheln der linken Hand an die unverletzte Seite meines Schädels. »Mir geht’s gut. Aber das war das letzte Mal, dass ich im Central Park spazieren gegangen bin.«
»Klingt nach einem weisen Entschluss. Sie haben eh eine schwere Zeit. Wenn ich etwas tun kann, um Ihnen zu helfen, sagen Sie mir Bescheid.« Er unterbrach sich kurz, bevor er zum Punkt kam. »Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass ich mit Mrs Duncan über den Fall Shapiro gesprochen habe. Sie hat alle Punkte, an denen Sie angreifbar sein könnten, sorgfältig erwogen.«
Ich könnte angreifbar sein? Das klang nicht gerade nach einer Solidaritätserklärung. Hatte Duncan nicht gesagt, das Episcopal stünde hinter mir, kurz bevor sie mir mit dem Ende meiner Karriere gedroht hatte? Wenn sie wirklich hinter mir standen, dann aber ganz weit hinten.
»Sie ist sehr professionell«, sagte ich vorsichtig.
»Es gibt etwas, was mir Sorgen bereitet. Ich bin den Fall auch mit allen anderen noch einmal durchgegangen, die darin involviert waren, und habe lange darüber nachgedacht. Ich habe mit Dr. Knox gesprochen und mit den Pflegekräften in der Notaufnahme sowie mit Mr O’Meara. Er hat mir gesagt, Mr Shapiro sei mit einer Waffe hergekommen. Ist das richtig?«
Das erschütterte mich, und ich nahm mir Zeit, die New York Times zusammenzufalten und aufs Bett zu legen, bevor ich antwortete.
»Mrs Shapiro hat ihren Mann mit der Waffe gefunden. Sie hat sie ihm weggenommen und zur Sicherheit mit hergebracht.«
»War es die Mordwaffe?«
Ich sah aus dem Fenster, betrachtete das Muster aus Stahl und Glas am Gebäude gegenüber und war mir bewusst, dass ich Jim nicht ansehen wollte. Ich dachte daran, wie Pagonis mir in dem Vernehmungszimmer in Yaphank die Mordwaffe gezeigt hatte. Es war nicht die Beretta gewesen, die Nora mit in die Notaufnahme gebracht hatte, aber inzwischen schien das auch schon keine Rolle mehr zu spielen. Ich hatte ihn hier rausspazieren lassen, ohne eine Ahnung zu haben, wozu er fähig war, obwohl mir ein wichtiger Hinweis unter die Nase gehalten worden war.
»Nein. Er hatte eine andere«, sagte ich.
Jim schaute auf sein Klemmbrett, als juckte es ihm in den Fingern, es zur Hand zu nehmen und zu notieren, was ich gesagt hatte. Dann sah er mich direkt an, und sein Blick bohrte sich mit dem Ausdruck eines Lehrers in meine Augen, der von seinem vielversprechendsten Schüler enttäuscht war.
»Weder Sie haben
Weitere Kostenlose Bücher