Die Diagnose: Thriller (German Edition)
sich Sorgen um seine seelische Verfassung.«
»Hat er Selbstmordabsichten geäußert?«
»Nicht direkt.«
»Warum haben Sie es dann geglaubt?«
»Seine Frau hatte ihn in ihrem Haus in East Hampton in seinem Arbeitszimmer angetroffen, eine Waffe auf dem Schreibtisch. Sie hatte sich Sorgen gemacht.«
Die Erwähnung der Waffe erweckte die Jury zum Leben. Eine Frau in der ersten Reihe, die sich umgesehen hatte, als wäre sie nicht ganz bei der Sache, richtete sich kerzengerade auf, und ein Mann hinten öffnete die Lippen zu einem stummen »O«. Ich versuchte, weiter ein ausdrucksloses, neutrales Gesicht zu machen, als wäre ich ein Sachverständiger, während ich mit wild pochendem Herzen auf Baers nächste Frage wartete. Wenn er weiter nach der Waffe fragte, musste ich sagen, dass Nora sie mit in die Ambulanz gebracht hatte und ich sie damit hatte nach Hause gehen lassen. Es gab zu viele Zeugen, um in diesem Punkt zu lügen.
»Sie wussten also, dass er gefährlich war?«, sagte Baer mit einer gewissen Schärfe.
Das war seine härteste Frage bislang, doch es war nicht, was ich befürchtet hatte, und so entspannte ich mich ein wenig. Joe hatte geahnt, dass er das fragen würde, und bisher war noch nichts zur Sprache gekommen, worauf er mich nicht vorbereitet hatte. Wir hatten in einem langen rechteckigen Raum in seiner Kanzlei geübt, wo Rollos vor den Fenstern kein Sonnenlicht hereinließen. Ich hatte an einem Ende eines Mahagonitisches gesessen, und Joe war auf und ab gegangen und hatte mich mit Fragen bombardiert. Er hatte meine Antworten gefilmt, und hinterher hatten wir uns auf einem Bildschirm, der am Kopfende des Tisches eine ganze Wand einnahm, meine Vorstellung angesehen und jedes Zögern und jedes Anzeichen für Angst registriert. Es war eine Art Reverse Therapy − ein Training, um meine Gefühle zu verbergen.
»Ich machte mir Sorgen, dass Mr Shapiro eine Gefahr für sich selbst sei. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass er eine Gefahr für andere darstellt.«
»Dann war Ihre Diagnose falsch?«
Allmählich bekam ich zu spüren, dass hier kein Richter zugegen war. S o eine Frage würde er doch sicher nicht zulassen? , dachte ich. Nicht nur der Obmann schien mich als Angeklagten zu betrachten. Ich löste den Blick von der Jury und schaute zu Baer und der Gerichtsprotokollantin, die den Kopf über den Stenografen gesenkt hatte. Er erwiderte meinen Blick freundlich, aber unerschütterlich, als wäre ich selbst schuld, weil ich unkooperativ gewesen war.
»Mr Shapiro hat noch nicht vor Gericht gestanden, also kann ich das nicht beantworten«, antwortete ich.
Streng genommen legte ich damit die Wahrheit sehr weit aus, denn Harry hatte mir gegenüber zugegeben, dass er Greene erschossen hatte, aber juristisch war meine Antwort korrekt, wie Baer mit einem knappen Lächeln und einem skeptischen Blick zur Jury einräumte.
»Er blieb zwei Tage im Krankenhaus, und dann haben Sie ihn, glaube ich, entlassen. Sie haben ihn rausgelassen, einfach so. Den Mann, um den Sie sich zwei Tage vorher noch solche Sorgen gemacht haben, einen Mann, den man mit einer Waffe gefunden hatte?«
»Er war freiwillig bei uns geblieben, und am Montag sagte er, er wolle nach Hause. Wir hatten mit der Behandlung begonnen, und ich sah keinen Grund, ihn zwangsweise dazubehalten.«
Baers Augen blitzten. »Dann wurde Mr Shapiro Ihr Privatpatient. Das heißt, bis er eine Woche später inhaftiert wurde unter dem Verdacht, Mr Greene umgebracht zu haben. Das war sicher ein gutes Gefühl. Ich meine, er war ein reicher und mächtiger Banker, der größte Spendengeber des Krankenhauses. Ein hübscher Fang.«
Allmählich entglitt die Situation meiner Kontrolle. Baer hatte recht − das war exakt der Gedanke, der mir durch den Kopf gegangen war. Einen reichen Patienten zu gewinnen war kein Verbrechen, deswegen hatte Jim sich extra in der Park Avenue niedergelassen, um Himmels willen. Doch Greenes Tod hatte alles verändert, und aus ganz normalem menschlichem Ehrgeiz war ein Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht geworden. Ich zögerte und überlegte, ob ich auf einer Pause bestehen und raus in den Flur gehen sollte, um mich mit Joe zu beraten, doch ich hatte das Gefühl, das käme einem offenen Schuldeingeständnis gleich.
»Ich … ich wollte sichergehen, dass Mr Shapiro gut versorgt war«, stammelte ich. »Wie ich es bei jedem anderen Patienten auch getan hätte.«
»Wie behandeln Sie Patienten normalerweise?«
»Das verstehe ich
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