Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
modernen Medizin. Dieses Problem betrifft fast alle Krankheiten. Es hat dazu geführt, dass Millionen von Menschen ohne Not zu Patienten geworden sind und die Unannehmlichkeiten und finanziellen Bürden erdulden mussten, die mit Überdiagnosen einhergehen. Es belastet unser ohnehin überlastetes Gesundheitssystem erheblich. Und alle Faktoren, die zu diesem Dilemma geführt haben und es verschärfen – Gewinnstreben, echte Überzeugung, juristische Bedenken, Meldungen in den Medien und sich selbst verstärkende Kreisläufe –, sind mächtige Hindernisse, wenn wir das Problem lösen wollen.
Es ist verführerisch, daraus einen einfachen Schluss zu ziehen: Gehen Sie den Ärzten aus dem Weg. Aber das wäre ein Trugschluss. Denken Sie daran, was ich in der Einleitung sagte: Die Frage lautet nicht: Sollen Sie zum Arzt gehen und eine Diagnose stellen lassen, wenn Sie krank sind? Die Medizin hat Kranken eine Menge zu bieten. Die Frage lautet: Was soll geschehen, wenn Sie gesund sind? Wie intensiv sollen Ärzte nach Abweichungen von der Norm suchen?
Wir alle müssen dem Dogma der Früherkennung skeptischer begegnen. Mir ist klar, dass dies einen wirklich schwierigen Paradigmenwechsel bedeuten könnte. Fast alle sagen, es sei immer im Interesse der Menschen, gesundheitliche Probleme früh zu entdecken. Das kommt uns einfach selbstverständlich vor. Das Gegenteil zu behaupten scheint gefährlich und unverantwortlich zu sein. Doch manchmal müssen sich wissenschaftliche Paradigmen eben ändern.
Ein Paradigmenwechsel ist bedrohlich
Um mich auf dieses Buch zu konzentrieren, nahm ich ein Jahr Urlaub und kehrte in den Teil des Landes zurück, wo ich aufgewachsen bin: in den Westen, den die Rocky Mountains prägen. Einer der großen Vorteile des Urlaubs besteht darin, dass man neue Leute trifft und etwas Neues lernt. Diese Kombination hilft uns, manches mit neuen Augen zu sehen. Ich verbrachte den größten Teil meines Urlaubs an der Montana State University in Bozeman, wo ich oft mit Geologie konfrontiert wurde. Das ist keine Überraschung, weil in der unmittelbaren Umgebung, im großen Yellowstone-Ökosystem, viele Anzeichen von jüngerer geologischer Aktivität zu finden sind: Vulkane, Erdbeben und Gletscher. Überraschend war, dass ich dort einiges über die Geschichte der Geologie lernte, was mich an das Paradigma der Früherkennung erinnerte.
Wenn Sie schon einmal durch den Osten des Staates Washington gefahren sind, wissen Sie, dass die Landschaft dort ziemlich kahl ist. Sie ist eine der ödesten Regionen unseres Landes; sie ist trocken, felsig und baumlos. Aber sie ist alles andere als flach, sondern mit ineinander verflochtenen Rinnen überzogen, einige fast zwei Kilometer breit, die sich in das massive Gestein schneiden. Es gibt auch gewaltige Strudeltöpfe, enge, tiefe Schluchten und Überreste riesiger Wasserfälle. Was das Gelände so einzigartig macht, ist das, was man nicht findet: die Substanz, die solche Merkmale formt – Wasser.
J. Harlen Bretz war der erste Geologe, der diese Landschaft studierte. Er bezeichnete sie als channeled scablands (von Rinnen durchzogenes Ödland), und er glaubte zu wissen, wie sie entstanden ist: durch plötzliche, enorme Wasserfluten – Fluten in einer heute unvorstellbaren Größenordnung, Fluten, wie man sie auslösen könnte, wenn man den Michigansee innerhalb weniger Tage auf den Bundesstaat Illinois schütten würde. Im Jahr 1923 veröffentlichte Bretz eine Arbeit, in der er seine Thesen erläuterte. Aber seine Thesen waren für das vorherrschende geologische Paradigma häretisch. Damals glaubten die Geologen, ihre Umwelt sei das Produkt langsamer Prozesse und schwacher Kräfte, die über lange Zeiträume hinweg wirkten. Landschaften veränderten sich langsam im Laufe von Hunderttausenden von Jahren. Eine Theorie, die von einem umwälzenden Ereignis ausging, zum Beispiel von einer Flut biblischen Ausmaßes, musste einfach auf feindselige Ablehnung stoßen, weil die Lebensarbeit der Geologen vom Glauben an einen allmählichen Wandel abhing.
Genau das geschah. Ein emeritierter Professor an der Universität von Montana beschreibt die Reaktionen auf Bretz’ Vortrag während der Konferenz der Geologischen Gesellschaft von Amerika im Jahr 1927:
Eine Intrige seiner prominenteren Gegner machte aus der Tagung etwas, was sie Debatte nannten. Aber es war eher ein Hinterhalt. Manche Anwesende nannten es Lynchmord. Mehrere angesehene Geologen im Publikum zogen mit derart groben Worten
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